Meinung

Warum das „Sicherheitspaket“ Deutschland unsicherer macht

Nach dem Anschlag von Solingen hat die Bundesregierung ein „Sicherheitspaket“ auf den Weg gebracht. Auch im digitalen Raum drohen damit unverhältnismäßige Eingriffe. Noch ist Zeit, umzusteuern.

von Erik Tuchtfeld · 9. Oktober 2024
Überwachungskameras an einem Bahnhof

Es gibt Kritik an ausufernden Überwachungsbefugnisse im digitalen Raum, sie würden weitreichende Änderungen bedeuten

Sicherheit für alle ist ein sozialdemokratisches Kernanliegen. Es ist eine Voraussetzung einer gleichen und freien Gesellschaft, dass Menschen sich ohne Angst vor Gewalt im privaten und öffentlichen Raum, online wie offline, bewegen können. Ein sozialdemokratischer Ansatz von Sicherheit muss dabei immer einen Schwerpunkt auf den Schutz derjenigen Menschen legen, die ohne staatlichen Schutz schutzlos wären. Es sind die Angehörige vulnerabler Gruppen, die von Rassismus, Antisemitismus, Sexismus oder Homophobie bedroht sind, die einen besonderen Anspruch auf die Einlösung des staatlichen Schutzversprechens haben. Freiheit und Sicherheit sind dabei keine Gegensätze: Ohne Sicherheit ist niemand frei, fördert die Sicherheit aber nicht die Freiheit, hat sie keinen Wert.

Breite Kritik aus der SPD

Das „Sicherheitspaket“ der Bundesregierung ist deshalb aus sozialdemokratischer Perspektive eine herbe Enttäuschung. Es ist in dieser Form nach weitgehend einhelliger Meinung der im Innenausschuss des Bundestages angehörten Sachverständigen verfassungs- und europarechtswidrig. In Reaktion auf den schrecklichen Terroranschlag von Solingen werden aktionistisch Vorschläge gemacht, die sich gegen die Schwächsten der Gesellschaft richten und für den digitalen Raum nie dagewesene Überwachungsmöglichkeiten schaffen könnten.

Kommt das Gesetzespaket wie geplant, macht es das Leben für viele Menschen in Deutschland unsicherer. Die parteiinterne Kritik wird nun zunehmend lauter: Mehr als 12.000 Sozialdemokrat*innen fordern von der Bundesregierung in Reaktion auf die vorgeschlagenen Maßnahmen eine Politik, die die Menschenwürde verteidigt. Die AG Migration und Vielfalt bezeichnet die Maßnahmen als „mit den sozialdemokratischen Grundsätzen unvereinbar“ und 35 Bundestagsabgeordnete betonen, dass sie „den Kurs, der gerade in der SPD in der Migrations- und Asylpolitik eingeschlagen wird, für falsch [halten]“.

Es droht eine digitale Totalüberwachung

Neben der völlig berechtigten Ablehnung der Verschärfungen in der Migrations- und Asylpolitik drohen die geplanten ausufernden Überwachungsbefugnisse im digitalen Raum in der Kritik unterzugehen. Dabei würden sie weitreichenden Änderungen bedeuten. Seit Jahren engagiert sich das breite zivilgesellschaftliche Bündnis Gesichtserkennung stoppen“ gegen biometrische Gesichtserkennung im öffentlichen Raum. Biometrische Gesichtserkennung öffnet die Tür in dystopische Zeiten, in der jeder Mensch überall und jederzeit identifizierbar und verfolgbar wird.

Das Missbrauchspotential und der Eingriff in die Privatsphäre sind enorm. Die Technologie lässt sich zum Beispiel nutzen, um umfassende Bewegungsprofile von Menschen zu erstellen. Für People of Color kommt zudem das Risiko hinzu, durch algorithmische Systeme, deren Trainingsdaten nicht die ganze Breite der Gesellschaft abbilden, diskriminiert und fälschlicherweise identifiziert zu werden. Der Überwachungsdruck dieser Technologien führt außerdem zu sogenannten chilling effects – Menschen äußern ihre Meinung nicht mehr frei und vermeiden Verhalten, das potentiell als „nicht normal“ verstanden werden kann. Das betrifft insbesondere marginalisierte Gruppen, die die Erfahrung kennen, aufgrund von vermeintlicher „Andersartigkeit“ ausgegrenzt zu werden. Für liberale Demokratien ist das sehr gefährlich.

Eine Allianz von Datenschützer*innen bis Polizeigewerkschafter*innen

Diese Technologie der Erkennung biometrischer Merkmale soll nach den Plänen der Bundesregierung nun für das gesamte Internet genutzt werden. Zur Fahndung nach Verdächtigen, aber auch zur simplen Feststellung der Identität von Asylbewerber*innen soll dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie den Strafverfolgungsbehörden der „biometrische Abgleich mit öffentlich zugänglichen Daten aus dem Internet“ erlaubt werden. Umfasst sind hiervon nicht nur Gesichter, sondern auch Stimmen oder der Gang einer Person. Technisch lässt sich dies nur sinnvoll umsetzen, in dem faktisch das gesamte (öffentlich zugängliche) Internet, also insbesondere auch Bilder und Videos von sozialen Plattformen wie Instagram und TikTok, ausgewertet und in einer zentralen Datenbank gespeichert wird. 

So gehen private Anbieter wie ClearView oder PimEyes vor. Dabei handelt es sich nach europäischem Recht um eindeutig rechtswidrige Dienste. Es ist (selbstverständlich) nicht zulässig, dass ein privater Anbieter einfach eine riesige Datenbank mit den Gesichtern aller Menschen dieser Erde anlegt. Deshalb hat 2020 nach Bekanntwerden des Angebots auch eine ungewöhnliche Allianz von Datenschützer*innen bis Polizeigewerkschafter*innen ein Verbot des Dienstes gefordert. Der europäische Gesetzgeber hat ebenfalls reagiert und auch im „AI Act“ nochmal explizit das Anlegen solcher Datenbanken ausnahmslos verboten

Genau diese europarechts- und verfassungswidrige Praktik möchte die Bundesregierung nun aber nicht aktiv bekämpfen, sondern durch das „Sicherheitspaket“ als Möglichkeit für Strafverfolgungsbehörden und das BAMF ermöglichen. In Bezug auf Geflüchtete sogar ohne jeden Bezug zu einer Straftat.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt statt Überwachung

Diese Strategie wirft die Frage auf, welchen Prinzipien die aktuelle sozialdemokratische Innenpolitik leiten. Eine Politik, die am Rande der Verfassungswidrigkeit segelt – und in diesem Fall auch eindeutig darüber hinaus – ersetzt den eigenen politischen Gestaltungsanspruch durch die schlichte Anwendung des vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Rahmens. Es ist eine Politik der falschen Hoffnungen, die harte Maßnahmen verspricht, faktisch aber – weil der Rahmen dann doch oft, wie in diesem Fall, überschritten wird – Rechtsunsicherheit schafft und schlussendlich Politikverdrossenheit fördert, weil Karlsruhe immer wieder korrigieren muss.

Dabei fehlt auch jedes Abgrenzungskriterium zu konservativer Innenpolitik. Ein SPD-geführtes Innenministerium muss anders sein als in den Jahrzehnten unter CDU- und CSU-Führung, nicht einfach nur ein bisschen weniger. Stattdessen nach 16 Jahren konservativer Innen- und Sicherheitspolitik sogar weitere Verschärfungen und neue Grundrechtseingriffe einzuführen, ist jedenfalls der falsche Weg.

All das droht die innenpolitischen Errungenschaften dieser Legislatur zu überschatten, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts etwa. Hier hat die SPD gezeigt, dass sie Ausgrenzung und Stigmatisierung bekämpft, die größten Risikofaktoren für Kriminalisierung und Radikalisierung. Sie schafft Sicherheit durch gesellschaftlichen Zusammenhalt, nicht durch permanente Überwachung. Mit dem digitalen Gewaltschutzgesetz, dem Gewalthilfegesetz und der Login-Falle liegen weitere Vorschläge auf dem Tisch, um Betroffene von Gewalt zu stärken und Strafverfolgung im Internet zielgerichtet zu verbessern. Sozialdemokratische Innenpolitik muss Freiheit durch Gerechtigkeit und Solidarität verwirklichen. Mit dem Sicherheitspaket wie es jetzt vorliegt gelingt ihr das nicht.

Autor*in
Erik Tuchtfeld

ist Mitglied des digital:hub des SPD Parteivorstands und Co-Vorsitzender von D64 – Zentrum für Digitalen Fortschritt. D64 ist Teil des im Text genannten Bündnisses Gesichtserkennung Stoppen und hat das Konzept der Login-Falle entwickelt.

Weitere interessante Rubriken entdecken

Schreibe einen Kommentar

Eingeschränktes HTML

  • Erlaubte HTML-Tags: <a href hreflang> <em> <strong> <cite> <blockquote cite> <code> <ul type> <ol start type> <li> <dl> <dt> <dd> <h2 id> <h3 id> <h4 id> <h5 id> <h6 id>
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.