Meinung

Lasst uns die Wahlen 2024 zur Abstimmung über Steuergerechtigkeit machen

Ob Erbschaftssteuer oder die Diskussion über die Erhöhung des Kinderfreibetrags: Mehr Steuergerechtigkeit kann uns helfen, für mehr sozialen Ausgleich zu sorgen und gleichzeitig unsere Zukunftsherausforderungen zu bewältigen. Die Wahlen in diesem Jahr sind ein guter Anlass, das Thema offensiv anzugehen.

von Oliver Czulo · 22. Januar 2024
Die Reichen besteuern: Die Wahlen in diesem Jahr könnten zur Abstimmung über mehr Steuergerechtigkeit werden.

Die Reichen besteuern: Die Wahlen in diesem Jahr könnten zur Abstimmung über mehr Steuergerechtigkeit werden.

Das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts hat, gelinde gesagt, viel in Bewegung gebracht. Möglicherweise kann aus der Not an manchen Stellen noch eine Tugend gemacht werden, und die dadurch entstandenen Einsparnotwendigkeiten können in produktive Debatten über Reformen münden: zum Beispiel in der Agrarpolitik zur Minderung der Subventionsabhängigkeit oder in der Gesundheitspolitik zur Streichung von Homöopathieleistungen, um Gelder dann für bessere Zwecke auszugeben.

Unabhängig davon tritt in dieser Lage deutlich hervor, dass viele der Herausforderungen der Zukunft – Klimawandel, Bildung, Friedenssicherung und vieles mehr – nicht ohne große weitere Investitionen zu meistern sind. Die Schuldenbremse zu reformieren oder immer wieder auszusetzen zu wollen dürfte sich als dauerhafte Herausforderung erweisen. Es gibt eine weitere Option: Diejenigen, die mehr schultern können, müssen dementsprechend Verantwortung übernehmen – gemeint sind nicht nur die Ganzsuperreichen aus der Doku, die im Dezember im ZDF lief.

Die SPD ist offen für eine Einkommenssteuerreform

In einer Videobotschaft zum Jahresende 2023 legte Generalsekretär Kevin Kühnert offen, dass die SPD im Zuge der Maßnahmenerarbeitung nach dem Haushaltsurteil bereit gewesen sei, „von den stärksten Schultern in unserer Gesellschaft [...] einen stärkeren Solidarbeitrag zu verlangen“ (ab 4:19). Die Hauptsteuerlast würde von kleinen und mittleren Einkommen unter anderem über Verbrauchsteuern getragen. Er kündigte an, dass es nun darum gehe, politische Mehrheiten zum Beispiel für eine entsprechende Einkommenssteuerreform zu erkämpfen (ab 8:47).

Diese und andere mögliche Maßnahmen, wie zum Beispiel eine Wiedererhebung der zurzeit ausgesetzten Vermögenssteuer oder die Einführung einer europaweiten Finanztransaktionssteuer, lassen sich unter dem Begriff der Steuergerechtigkeit zusammenfassen. Sie passen sich damit in eines der zentralen Themen der Sozialdemokratie ein: Gerechtigkeit.

„Leistung“ oder echte Wertschöpfung?

Es braucht nicht viel Fantasie, sich bereits die Stimmen aus der FDP, Union und anderen Parteien rechts der Mitte vorzustellen, die darauf hinweisen, dass „die Leistungsträger“ der Gesellschaft nicht unverhältnismäßig belastet werden dürften. Menschen, die über sehr hohe Vermögen oder Einkommen verfügen, automatisch als „Leistungsträger“ zu bezeichnen, ist genauso pauschalisierend gedacht, wie sie unter Generalverdacht zu stellen.

Selbstverständlich kann Wohlstand eine Belohnung für fleißiges und geschicktes Unternehmertum sein, und nicht wenige nutzen ihre Möglichkeiten, um faire Löhne zu zahlen oder sich gemeinnützig zu engagieren. Aber nicht selten sind es andere Faktoren, die über Wohlstand oder Reichtum entscheiden, beispielsweise ein sehr gut ausgestattetes Erbe oder eine Kultur der Boni für „Leistungen“, die eher Fragezeichen hinterlassen.

Oliver
Czulo

Ein Markt, der immer mehr auf nur dürftig gebremste Kapitalakkumulation ausgerichtet ist, führt zu Unwuchten, die Marktprinzipien unterwandern.

So oder so: Sehr hohe Einkommen und Vermögen höher als andere zu besteuern, ist gerecht. Diejenigen, die über viel Geld verfügen, können zum Beispiel hohe Summen in Anlagen mit hohen Risiken investieren, in denen „das Geld für sie arbeitet“ und sich im besten Fall deutlich jenseits üblicher Sparzinssätze vermehrt. Ein Ausfall würde diese Menschen nicht zwingend – wenn man von entsprechendem Augenmaß ausgeht – in eine existenzielle Krise stürzen.

Schon wer ein Durchschnittseinkommen hat, hat solche Möglichkeiten nicht, ganz zu schweigen von denjenigen, die jeden Monat knapp kalkulieren müssen. Neben dieser Ungleichheit steht außerdem die Frage im Raum: Ist „sich selbst vermehrendes Geld“ gleichzusetzen mit einer Wertschöpfung, wie sie zum Beispiel durch Bezahlung konkreter Arbeitsleistungen entlohnt wird?

Die „sozial-ökologische Marktwirtschaft“ mit Leben füllen

Menschen, die über weit überdurchschnittlich viel Geld verfügen, als „Leistungsträger“ zu bezeichnen, entspricht einem kapitalistischen Bild: Erfolgreich ist, wer möglichst viel Kapital akkumuliert, andere Aspekte sind mindestens zweitrangig oder fallen ganz hinten runter. Die soziale Marktwirtschaft ist ein Gegenentwurf: Sie erkennt zwar Marktprinzipien an, aber auch, dass der Markt ein gesellschaftliches Gebilde ist, an dem verschiedenste Seiten mit ihren Interessen und Bedürfnissen teilhaben.

Der Ampel-Koalitionsvertrag fügt mit der Idee der sozial-ökologischen Marktwirtschaft unsere natürlich Lebensgrundlage dieser Gleichung hinzu und will das Konzept insgesamt wiederbeleben: „Es gilt, die soziale Marktwirtschaft als eine sozial-ökologische Marktwirtschaft neu zu begründen“ (S. 5).

Steuergerechtigkeit ist ein wichtiges Element, damit diese neu begründete Idee der sozial-ökologischen Marktwirtschaft nicht nur ein abstraktes Konzept bleibt, sondern mit Leben gefüllt wird. Dahinter steht auch, aber nicht nur der soziale Gedanke: Ein Markt, der immer mehr auf nur dürftig gebremste Kapitalakkumulation ausgerichtet ist, führt zu Unwuchten, die Marktprinzipien unterwandern.

Positiv ist der Effekt von mehr Steuergerechtigkeit außerdem für die Transformationen, die die sozial-ökologische Marktwirtschaft anstrebt: Wie sonst hätte beispielsweise die wirtschaftliche Transformation im Osten finanziert werden können, mit deren Erfolgsgeschichten die SPD im Wahlkampf punkten will? Und wie will man den sprichwörtlichen Bus oder Zug überall in Deutschland wieder in alle Dörfer bringen?

Dem Kulturkampfgetöse von rechts die Stirn bieten

Wie ein Mastodon-Nutzer ganz richtig anmerkte: Bei all den Diskussionen darüber, wer welchen Beitrag leisten kann und soll, dürfen wir uns nicht durch einen politischen oder medialen Fokus auf viele kleine, teils schwächere Gruppen auseinanderdividieren lassen. Es ist klar: Die Finanzierung der Gemeinschafts- wie der Zukunftsaufgaben, die unser Staat wahrnimmt, muss solidarischer werden, und die starken Schultern sind in der jüngeren Vergangenheit zu häufig geschont worden.

Oliver
Czulo

Eine Stimme für mehr Steuergerechtigkeit ist eine Stimme für die SPD.

Eine solche Themensetzung und der Wille, entsprechende Mehrheiten zu schaffen, erfordern viel Disziplin. Es gilt, dem Kulturkampfgetöse von Rechts mit all seinen Nebelkerzen die Stirn zu bieten: Dazu gehören absurde, meist harmlos wirkende Diskussionen über ein Genderverbot. Diese können aber als Einstiegsdroge dienen und die Tür für Fantasien bis hin zur jetzt offen zur Schau gestellten Horrorvorstellung von Massendeportationen öffnen. Ebenso muss man einem Friedrich Merz entgegentreten, der sich politisch wie ökonomisch in die Boomzeit der Finanzwelt der 1990er und frühen 2000er zurückwünscht, deren Blasen mehrfach platzten.

Der Disziplin kann die Frage helfen, an wem man lieber Entschlossenheit und Durchsetzungsvermögen demonstrieren will: An Menschen, von denen sicher die meisten aus sehr guten Gründen, mittellos und ohne politische Lobby zu uns fliehen? An einer Finanzwelt, die sich nicht scheut, ihr Geld und ihre Netzwerke zu ihrem eigenen Vorteil einzusetzen? Oder an Neofaschist*innen, die Geflüchtete und Andersdenkende wieder in Lager stecken wollen? Wähle zwei von drei.

Wir brauchen eine Abstimmung über Gerechtigkeit

Es genügt aber nicht, darüber nur eine Debatte zu führen, gerade in Zeiten, in denen Wahlen manchmal fast schon zu Volksabstimmungen über hoch emotionale und durch Aufwiegelung potenziell brandgefährliche Themen wie Migration werden. Wir brauchen eine Abstimmung über Gerechtigkeit: Lassen wir die Wähler*innen abstimmen, ob sie mehr Steuergerechtigkeit wollen. Eine Stimme für mehr Steuergerechtigkeit ist eine Stimme für die SPD.

Diese Verknüpfung herzustellen, könnte viele Wähler*innen für die Sozialdemokratie an die Urne holen. Auch, wenn die Rechnung hier bewusst vereinfacht und zugespitzt ist, und man vorsichtig vorgehen muss, um nicht ein Feindbild durch ein anderes zu ersetzen: Eine falsche Rücksichtnahme können wir uns angesichts der anstehenden Herausforderungen nicht leisten.

Autor*in
Oliver Czulo
Oliver Czulo

ist Übersetzungswissenschaftler und beschäftigt sich mit Denk- und Sprechmustern in verschiedenen Kulturen. Gelegentlich schreibt er zu gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Themen.

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10 Kommentare

Gespeichert von Elias Hallmoser (nicht überprüft) am Di., 23.01.2024 - 10:42

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Nur eine ordoliberal bestimmte soziale Marktwirtschaft war und ist ein Gegenentwurf zum Laissez-faire-Wirtschaftsliberalismus oder zum sozialpädagogisch bevormundenden Steuerstaat: Sie erkennt Marktprinzipien, -geschehen sowie -versagen und reguliert deshalb Märkte so, dass diese im Sinne der Bürger funktionieren. Von dieser Vernunft verabschiedete sich zuerst die FDP, dann die CDU und schliesslich auch die SPD.

Man muss nämlich regierungs- und parlamentsseitig Bedingungen schaffen, unter und mit denen Bürger Wohlstand erarbeiten und ihn dann auch für sich verwenden können. Mit massiver Besteuerung, Ideologieprojekten [Abschaltung KKW ...] und massenhaftem Armutszuzug macht man all das zunichte. Da verliessen/verlassen nicht wenige Bürger lieber dieses Land.

Gespeichert von Peter Boettel (nicht überprüft) am Di., 23.01.2024 - 11:11

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Es ist ja schön und gut, dass in diesem Forum immer wieder für mehr Steuergerechtigkeit geworben wird. Bloß die tatsächliche Politik sieht seit vielen Jahren leider anders aus.

Bereits unter Schröder wurden die Einkommensteuerhöchstsätze heruntergesetzt, die Vermögenssteuer wurde auch unter SPD geführten Regierungen nicht wieder reaktiviert.

Wenn schon häufig, auch in Wahlprogrammen, eine gerechte Steuerpolitik gefordert wird, sollte diese auch von der SPD-Fraktion im Bundestag sowie den SPD-Mitgliedern in der Bundesregierung endlich umgesetzt werden, damit die leider verloren gegangene Glaubwürdigkeit der SPD wieder hergestellt wird.

So, wie die FDP als kleinste Regierungspartei fortwährend ihre neoliberalen, nur den Vermögenden nicht aber der Mehrheit des Volkes dienenden, Schnapsideen realisieren kann, sollte die SPD als größte Regierungspartei schließlich eine überfällige sozialdemokratische Politik praktizieren.

Andernfalls sinkt ihre Wählerschaft nicht nur in Sachsen, sondern im ganzen Bundesgebiet unter die Fünf-Prozent-Klausel und die Mitgliedschaft auf die der FDP.

Der Beitrag fordert eine gerechte Steuerpolitik ja nicht nur ein, sondern deutet auf das sich aktuell bietende Gelegenheitsfenster, das sich u.a. im zitierten Video von Kevin Kühnert zeigt. Insofern: Nicht aufhören, nachzuhaken!

Gespeichert von Peter Plutarch (nicht überprüft) am Di., 23.01.2024 - 16:09

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weil sie Umverteilung seit Jahrzehnten nur antäuscht, im Zweifel aber kneift. Der Autor hat recht, Umverteilung ist ein zentrales Thema, ohne das künftige Wahlerfolge der SPD und wirksame sozialdemokratische Politik nicht möglich sein werden.

Sollte die SPD Umverteilung über substanzielle Vermögens- und Erbschaftssteuer ernst meinen (was ich inzwischen bezweifele), dann würde sie Umverteilung ins Zentrum ihrer Politik rücken. Und zwar so, dass eine Regierungsbeteiligung an einer Koalition, die nicht für substanzielle Umverteilung sorgt, ausgeschlossen ist.

Leider ist seit der Jahrtausendwende zu beobachten, dass den Spitzengenossen die Regierungsbeteiligung und damit der Posten in der Regierung im Zweifel wichtiger ist, als diese Kernforderung der Sozialdemokratie. Solange die Prioritäten weiterhin so bleiben, wird das auch nichts mit sozialdemokratischer Handschrift und echten Wahlerfolgen.

Die Frage ist also, ist das Ernst gemeint oder wieder nur warme Luft, lieber Kevin Kühnert.

Ich habe - ganz unbewusst - den Ausdruck "Umverteilung" vermieden. Sowohl "Steuern" als auch "Umverteilung" erzeugen sogleich einen Interpretationsreflex in Richtung "wegnehmen", wobei die "Steuergerechtigkeit" das u.U. ein wenig abmildert. Im Gegenzug könnte man natürlich auch von "Verteilungsgerechtigkeit" sprechen. Diesen Nachdenkimpuls nehme ich mal mit!

Gespeichert von Martin Holzer (nicht überprüft) am Di., 23.01.2024 - 17:28

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"tax the rich"

Gilt das auch für SPD-Politiker und Parteifunktionäre mit > 10k Euro Gehalt im Monat?

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Sa., 27.01.2024 - 09:35

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Da kann man in diesem Forum die Steuergerechtigkeit noch so heiß diskutieren und gar in Wahlprogramme schreiben, aber glaubt denn irgend ein::::e Bürger::*/_in noch an Wahlversprechen (Versprecher) der SPD??
Respekt für Dich.