Meinung

Für Grundrechte und sichere Kommunikation – Nein zur Chatkontrolle

Mit dem Argument, Kinder zu schützen, will die EU für alle Mitgliedstaaten eine Chatkontrolle einführen. Einmal eingeführt, könnte das Instrument beliebig ausgeweitet werden. Jede Nachricht könnte künftig mitgelesen werden. Die SPD muss das verhindern.

von Philipp Marten , Erik Tuchtfeld · 9. Oktober 2025
Transparent "Chatkontrolle verhindern" in der Fankurve von Union Berlin, im Vordergrund einige Fußballspieler auf dem Rasen

Selbst im Fußballstadion ein Thema: Die Chatkontrolle könnte zu massenhafter Überwachung führen.

Am 14. Oktober sollte der EU-Ministerrat über die sogenannte Chatkontrolle-Verordnung abstimmen. Was mit einer Verbesserung von Kinderschutz begründet wird, würde in Wahrheit eine beispiellose Massenüberwachung ermöglichen. Die EU-Kommission plant, Anbieter von Messengern, E-Mail-Diensten und anderen Kommunikationsplattformen zu verpflichten, private Nachrichten und Bilder automatisiert zu durchsuchen. Nun wurde die ursprünglich geplante Abstimmung vorerst verschoben, das Vorhaben ist damit aber noch nicht vom Tisch.

Für das Ziel der Bekämpfung sexualisierter Gewalt soll zukünftig mit „Client-Side-Scanning“ jede Nachricht bereits auf dem eigenen Gerät überprüft, also noch bevor sie verschlüsselt und verschickt wird. Ob beruflich, privat oder im Ehrenamt: Alles würde mitgelesen. Erkennt der Algorithmus einen vermeintlichen Verdacht, landen Inhalte automatisch bei Ermittlungsbehörden. Damit wäre das Prinzip vertraulicher Kommunikation faktisch abgeschafft.

Es darf kein Werkzeug für Diktaturen in Europa entstehen

Eine solche Technologie lässt sich beliebig ausweiten. Was heute nach Missbrauchsdarstellungen sucht, kann morgen Protestvideos, Whistleblower-Dokumente oder politische Kommunikation erfassen. Gerade wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wissen aus der Geschichte, wohin die Existenz solcher Überwachungsinfrastrukturen führen kann. Ein solches Werkzeug für Diktaturen darf nicht in Europa entstehen.

Willy Brandt hat Freiheit als das höchste Gut sozialer Demokratie verstanden. Sie ist kein Luxus, sondern Voraussetzung für Gerechtigkeit. Dieses Verständnis gilt heute im digitalen Raum genauso wie in der analogen Welt. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das von deutschen Gerichten als Schutz vor staatlicher Überwachung entwickelt wurde, sowie das Recht auf vertrauliche Kommunikation sind Ausdruck genau dieses sozialdemokratischen Freiheitsbegriffs. Wer sie aushöhlt, gefährdet den Kern unserer Demokratie.

Sechs Gründe gegen die Chatkontrolle

Zahlreiche Organisationen von Amnesty International über den Kinderschutzbund bis hin zu D64 sowie mehrere hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler appellieren daher an die Bundesregierung, die Verordnung abzulehnen. Messenger-Dienste wie Signal und WhatsApp warnen, dass das Vorhaben die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung untergräbt und kündigen an, sich gegebenenfalls aus Europa zurückziehen zu müssen. Selbst Geheimdienste weisen auf die entstehenden Sicherheitslücken hin.

Sechs zentrale Gründe sprechen gegen die Chatkontrolle:

  1. Anlasslose Überwachung: Jede Nachricht würde gescannt, ohne Verdacht, ohne richterliche Anordnung. Das widerspricht deutschen und europäischen Grundrechten.
  2. Ende der Vertraulichkeit: Private Gespräche, Familienfotos, beruflich geschützte Kommunikation, alles wird von Künstlicher Intelligenz auf mögliche Verdachtsmomente überprüft.
  3. Angriff auf Verschlüsselung: Um Inhalte zu prüfen, müsste Verschlüsselung aufgebrochen werden. Das schwächt die IT-Sicherheit aller.
  4. Fehleranfällige Technik: Automatische Systeme produzieren massenhaft Fehlalarme und kriminalisieren Unschuldige, während Täter die Filter schon mit wenig Technik-Wissen umgehen können.
  5. Gefährdung vulnerabler Gruppen: Besonders betroffen wären Journalistinnen und Ärzte, Rechtsanwältinnen und queere Menschen, Opferberatungen und paradoxerweise auch Kinder selbst, die nach einem Übergriff Schutz oder Hilfe suchen.
  6. Dammbruch-Gefahr: Eine einmal geschaffene Überwachungsinfrastruktur wird ausgeweitet, beispielsweise auf Urheberrechtsverletzungen, politische Inhalte oder Protestbewegungen.

Kinder müssen auch im digitalen Raum effektiv geschützt werden. Mit den geplanten Maßnahmen wird das jedoch nicht gewährleistet. Eine solche Symbolpolitik wäre gefährlich, weil sie Straftaten kaum verhindert, aber mit massiven Grundrechtseingriffen für weite Teile der Bevölkerung verbunden ist. 

Es gibt bessere Maßnahmen, Kinder zu schützen

Stattdessen würden andere Maßnahmen helfen: gezielte Ermittlungen mit richterlicher Kontrolle, mehr Personal für Ermittlungsbehörden, Präventionsarbeit und die Bekämpfung von Missbrauch an der Quelle. Zudem müssen Missbrauchsdarstellungen konsequenter als bisher gelöscht werden.

Die SPD hat eine historische Verantwortung, Freiheit und Sicherheit gemeinsam zu stärken und nicht auf diejenigen hereinzufallen, die schnelle Lösungen für komplexe Probleme versprechen. Dies unterstreichen auch unsere Fraktion im Europaparlament und unsere Justizministerin Stefanie Hubig. Wer soziale Demokratie ernst meint, muss der Chatkontrolle eine klare Absage erteilen.

Der Text wurde am 8. Oktober verfasst und am 9. Oktober aktualisiert.

Autor*in
Philipp Marten

ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum, Mitglied des SPD-Unterbezirksvorstands Dortmund und ehem. Vorstandsmitglied von D64 – Zentrum für Digitalen Fortschritt. 

Autor*in
Erik Tuchtfeld

ist Mitglied des digital:hub des SPD-Parteivorstands und Co-Vorsitzender von D64 – Zentrum für Digitalen Fortschritt. D64 ist Teil des Bündnisses Chatkontrolle Stoppen.

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