Kultur

Woche der Meinungsfreiheit: „Wir müssen die offene Gesellschaft schützen"

Die „Woche der Meinungsfreiheit“ des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels startet am 3. Mai in die vierte Runde. Im Interview beschreibt Hauptgeschäftsführer Peter Kraus vom Cleff seine Sorgen über die Debattenkultur in Deutschland und was Bücher für eine offene Gesellschaft bedeuten.

von Karin Nink und Nils Michaelis · 30. April 2024
Demonstration gegen Rechtsextremismus in Thüringen

Einsatz für die freiheitliche demokratische Grundordnung: Kundgebung gegen Rechtsextremismus Ende April in Meiningen (Thüringen).

Was ist das Ziel der „Woche der Meinungsfreiheit“?

Der Börsenverein organisiert diese Aktionswoche zum vierten Mal. Nicht ohne Grund fällt der Start mit dem Internationalen Tag der Pressefreiheit am 3. Mai und der Abschluss mit dem Gedenktag für die von den Nationalsozialisten initiierten Bücherverbrennungen am 10. Mai zusammen. Es geht uns darum, das Bewusstsein für die Bedeutung der Meinungsfreiheit zu stärken. Auf ihr basiert unsere Demokratie. 

Wer kann mitmachen?

Wir laden die breite Zivilgesellschaft ein, sich an der Aktionswoche zu beteiligen. Die Buchbranche leistet einen wesentlichen Beitrag für eine offene und informierte Gesellschaft, sie steht für Freiheit, Vielfalt und Respekt. Wer das unterstützt, ist willkommen, unter dem Dach der Woche der Meinungsfreiheit Veranstaltungen anzubieten oder sie zu besuchen. Wir sammeln die Veranstaltungen der Partner auf der Webseite zur Woche der Meinungsfreiheit.

Müssen wir die Meinungsfreiheit und die offene Gesellschaft heute stärker verteidigen als noch vor einigen Jahren?

Ja, das müssen wir. Ich hätte nie gedacht, dass unser Land jemals an diesen Punkt kommen würde. Nach den Terroranschlägen der Hamas, dem Beginn des Gaza-Krieges und einem Anstieg antisemitischer Taten hätte ich mir eine noch deutlichere Reaktion der Politik und der Öffentlichkeit gewünscht. 

Es ist gut, dass in Folge der Correctiv-Recherchen viele Menschen gegen Rechtsextremismus auf die Straße gegangen sind – es ist wichtig, dass das weitergeht. Vom Sofa aus eine Online-Petition zu unterzeichnen, genügt längst nicht. 

„Antidemokratische Positionen haben keinen Platz im Programm"

Angesichts der anstehenden Europawahl sowie drei Landtagswahlen in Deutschland rufen wir alle Bürger*innen dazu auf, Verantwortung zu übernehmen, und aktiv für den Erhalt demokratischer Grundsätze einzutreten. Wer weiterhin eine offene Gesellschaft will, muss wählen gehen. 

Wie wollen Sie verhindern, dass sich rechtsextreme Buchläden an der Aktionswoche beteiligen und die Meinungsfreiheit als Feigenblatt missbrauchen?

Generell bietet die Aktionswoche verschiedenen Meinungen und politischen Perspektiven Raum – das macht ja Meinungsfreiheit und eine Demokratie gerade aus. Rechtsextreme, antidemokratische Positionen gehören aber nicht dazu. Solche Inhalte haben keinen Platz in unserem offiziellen Programm. 

Warum Lesen hilft

„Wer ein belletristisches Werk liest, lässt sich auf andere Menschen, Lebensweisen und Perspektiven ein", sagt Peter Kraus vom Chef, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.

Peter Kraus vom Chef ist Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels

Wie haben die Digitalisierung und das Internet die öffentlichen Debatten und Meinungsvielfalt verändert?

Viele Menschen bewegen sich nicht mehr außerhalb ihrer von Algorithmen getriebenen Echokammer, die die eigene Meinung in einem stetigen Flow bestätigt. Sie haben verlernt, wie man sich mit anderen Meinungen auseinandersetzt. 

Wir müssen viel mehr in Lese- und Mediennutzungskompetenz investieren. Nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen. Nie zuvor wurde so viel gelesen wie heute – die Frage ist nur: Was? Viele Menschen wissen nicht, worauf sie sich mit Fake News einlassen. Ihnen fehlen oft das Bewusstsein und der innere Kompass. Genau dort muss man ansetzen. 

Wokeness und Cancel Culture prägen zunehmend den gesellschaftlichen Diskurs. Erkennen Sie darin und anderswo ungewollte Einschränkungen der Meinungsfreiheit?

Anders als in vielen Ländern ist es in Deutschland um die Meinungsfreiheit insgesamt gut bestellt. Rede- und Publikationsfreiheit sind in der Verfassung verankert und werden vom Staat gewährt, solange keine Gesetze verletzt werden. 

Was mir Sorge macht, ist die zunehmende Polarisierung im öffentlichen Diskurs. Mein Verständnis einer offenen Gesellschaft ist es, dass wir uns auch mit Meinungen und Ansichten auseinandersetzen, die nicht den unseren entsprechen. Das ist wichtig für eine lebendige Demokratie. Die offene Gesellschaft ist keine Gesinnungsgemeinschaft. 

„Einfache Wahrheiten genügen nicht"

Was können Bücher dazu beitragen, um Leute aus der digitalen Blase zu holen und für Demokratie und Meinungsfreiheit zu begeistern?

Bücher lehren Empathie. Frei nach dem Motto des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges: „Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn.“ 

Wer ein belletristisches Werk liest, lässt sich auf andere Menschen, Lebensweisen und Perspektiven ein. Sachbücher bieten verlässliche, von Verlagen kuratierte Informationen. 

Eines meiner Lieblingsbücher ist „Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“ von Hans Rosling und anderen Autor*innen. Eine seiner Kernbotschaften an die Leser*innen lautet: Lasst euch nicht mit einfachen Wahrheiten abspeisen!

Welches Buch empfehlen Sie, um jenen Bewusstseinsprozess anzuregen?

Um zu erkennen, wo und wann der Kipppunkt einer Gesellschaft erreicht ist, in der Belletristik auf jeden Fall etwas von Kurt Tucholsky oder Erich Kästner. Oder auch Volker Kutschers Gereon-Rath-Krimis. Bücher, die sich mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in den 1920er- und 30er-Jahren beschäftigen. 

Bei Sachbüchern würde ich Yuval Noah Harari nennen. Eine persönliche Lese-Erfahrungen zu Empathie und Verständnis für andere: Das Thema Abtreibung habe ich zum ersten Mal wirklich durchdrungen, nachdem ich „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ von John Irving gelesen hatte. 

Mehr zum Thema gibt es auf der Internetseite der Woche der Meinungsfreiheit.

Autor*in
Karin Nink und Nils Michaelis

Karin Nink ist Chefredakteurin, Nils Michaelis Redakteur des „vorwärts".

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