Kultur

Dokumentarfilm „Independence“: Wie Unabhängigkeit zur Lebensaufgabe wird

Als politisches Ziel kann Unabhängigkeit Massen mobilisieren. Sie ist aber auch ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Davon erzählt der Dokumentarfilm „Independence“. Im Mittelpunkt steht die Spurensuche einer deutschen Schauspielerin mit Wurzeln in Afrika.

von Nils Michaelis · 15. März 2024
Helen Wendt in Mosambik

Auch ein Weg, um Unabhängigkeit zu erreichen: Helen Wendt auf Spurensuche in Mosambik.

Manchmal hat der Brexit ein freundliches Gesicht. Ceri und Mike Jayes sind Kommunalpolitiker der nationalistischen Partei UKIP und leben in einem englischen Dorf. Vom heimischen Sofa aus lassen sie Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union Revue passieren. Wer den dauerlächelnden Eheleuten zuhört, bekommt den Eindruck, ihr Land sei nun im Paradies angelangt. Bekanntlich ist auch angesichts einer nie dagewesenen Polarisierung das Gegenteil der Fall. Doch der Drang nach Eigenständigkeit und „wahrer“ britischer Identität überragt im Weltbild der beiden Senioren alles andere.

Bei aller Irritation gegenüber den Äußerungen dieser Brexiteers gilt allerdings: Der Drang nach Eigenständigkeit und die Bewahrung oder Wiedererlangung der Identität stehen im Zentrum vieler Unabhängigkeitsbewegungen. Genau darum geht es auch im Abwehrkampf der Ukraine gegen Russlands Aggression. Der Kampf um eben diese Dinge lässt sich aber auch auf das Dasein eines jeden Menschen beziehen. Vor allem dann, wenn dieser Mensch Ausgrenzung erfahren hat.

Im Leben und in der Familiengeschichte der Protagonistin dieses Films laufen diese Fäden zusammen. Helen Wendt wurde im Jahr 1985 als Tochter einer Leipziger Tänzerin und eines Studenten aus Mosambik geboren und verbrachte die ersten Lebensjahre in der DDR. Dass ihr Vater dort studieren konnte, hat auch damit zu tun, dass sein Land zehn Jahre vor der Geburt der Tochter die Unabhängigkeit erlangt hatte.  

Der Blick der anderen

Helen Wendt ist es gewohnt, dass ihre Selbstwahrnehmung und der Blick von außen häufig auseinanderklaffen. Jahrelang betrachtete sie sich als weiße Deutsche und blendete das „Schwarze“ in ihr, wie sie es selbst nennt, aus. Umso stärker ist ihr Drang, ihre Identität zu finden und zu behaupten. Dabei kommt auch die Erforschung ihrer afrikanischen Wurzeln zum Tragen. 

Der Film begleitet sie auf einer Erkundungsreise zu sich selbst. Und schaut zugleich auf Gruppen in verschiedenen Weltregionen, die für ihre Identität und Unabhängigkeit streiten. Was treibt sie an? Wie sind kollektive Interessen und persönliche Motive miteinander verwoben? Wie prägen die Folgen des Kolonialismus und der Rassismus als Ursachen vieler Unabhängigkeitsbewegungen bis heute das Weltgeschehen?

Neben Großbritannien reiste Regisseur und Autor Felix Meyer-Christian mit seinem Team in den Südsudan, nach Katalonien und nach, kein Scherz, Bayern. Und nach Mosambik. Während der Spurensuche im Geburtsland ihres Vaters wird in Helen Wendt ein Prozess in Gang gesetzt, der viele ihrer Überzeugungen ins Wanken bringt. Die Szenen in der Hauptstadt Maputo bilden das zentrale Fundament der filmischen Erzählung. Und die damit einhergehende Selbstbefragung im Off-Text den roten Faden.

Zwei Welten finden zueinander

Dass es gelingt, Helen Wendts Gedankenfluss über ihre Identitätssuche mit den Intentionen von Vertreter*innen verschiedener Unabhängigkeitsbewegungen zu verknüpfen, ist die große Stärke dieses Films. In den Worten der Protagonistin spiegeln sich beide Sphären nach dem Motto: Was hat das eigentlich mit mir zu tun? Erst durch diesen Spiegel werden einige Aussagen von Aktivist*innen wirklich plastisch und interessant.

Man mag mitunter kritische Nachfragen vermissen. Etwa, wenn jenes britische Ehepaar oder auch Freiheitskämpfer*innen im Südsudan oder Mosambik in aller Ausführlichkeit ihre Sicht auf die Dinge ausbreiten. Auch hätte man den Vorsitzenden der Bayernpartei, Florian Weber, bei seiner Analyse des Verhältnisses zwischen Freistaat und Bundesrepublik mehr aus der Reserve locken können.

Anderseits zeigt „Independence“ gerade dank des breiten Raums für Selbstzeugnisse, wie tief das Bedürfnis nach Unabhängigkeit in vielen Menschen angelegt ist und welche Gefahren drohen, wenn es für politische Zwecke oder missbraucht wird. Nicht nur Großbritannien ist ein abschreckendes Beispiel. Das Scheitern solcher Ideen veranschaulicht auch der Blick auf den Südsudan.

Der Kampf steht am Anfang

Die entscheidende Erkenntnis des Films ist allerdings, dass Unabhängigkeit auch eine Frage von Zugehörigkeit ist. Helen Wendts ganz persönlicher Unabhängigkeitskampf hat gerade erst begonnen.

 

Info:

„Independence“ (Deutschland 2023), ein Film von Felix-Christian Meyer, mit Helen Wendt, Ilona Wendt, Fabiao Mavie, Florian Weber, Yannis Karagiannis u.a., 93 Minuten, OmU, FSK ab zwölf Jahre

https://www.costacompagnie.org/de/

Im Kino

 

 

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