„Das Mädchen mit der Nadel“: Düsteres Märchen über soziale Not von Frauen
Vielerlei Schrecken in einem einzigen Kinofilm: Ausgehend von der prekären Lage einer Fabrikarbeiterin erzählt „Das Mädchen mit der Nadel“ von menschlichen und gesellschaftlichen Abgründen.
MUBI
Die Fabrikarbeiterin Karoline (Vic Carmen Sonne) erlebt die volle Härte der dänischen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg.
Es war einmal eine einsame junge Frau namens Karoline. Um ihr ärmliches Zimmer in Kopenhagen bezahlen zu können, schuftet sie für wenig Geld als Näherin in einer Textilfabrik. Dort trifft sie ihren Märchenprinzen, nämlich den Fabrikdirektor, der verspricht, sie aus ihrem proletarischen Elend zu befreien. Doch als Karoline schwanger wird, lässt er seine Geliebte sitzen und die verliert ihre Arbeit.
Wie soll Karoline in dieser Lage ein Kind großziehen? Abtreibungen sind zu dieser Zeit in Dänemark illegal und Adoptionen so gut wie unmöglich, also versucht die Verzweifelte, die Sache heimlich und in Eigenregie zu erledigen. Wie durch ein Wunder trifft sie auf Dagmar, die sie von der Abtreibung abhält, sich der jungen Frau annimmt und eine, wie sie sagt, bessere Lösung anbietet. Alles scheint gut zu werden.
Die Arbeit der Frauen schützt nicht vor Armut
Märchenhaft und wundersam ist so einiges in „Das Mädchen mit der Nadel“. Menschen machen schicksalshafte Begegnungen und auf verschlungenen Wegen offenbaren sich finstere Abgründe. Tatsächlich aber basiert das düstere Drama auf realen Umständen. Inspiriert wurde es von der Dagmar Overbys Lebensgeschichte: Diese ging Anfang des vorigen Jahrhunderts als erste dänische Serienmörderin in die Annalen ein.
Auf der anderen Seite greift der schwedische Filmemacher Magnus von Horn das soziale Elend auf, das in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg (nicht nur in Dänemark) vor allem alleinstehende und alleinerziehende Frauen traf: Viele ergriffen schlecht bezahlte Fabrikjobs, die gerade so zum Überleben reichten, aber keinerlei Sicherheit boten. Und der Staat tat nichts, um ihnen und ihrem Nachwuchs zu unterstützen. Eine Frau wie Karoline blieb für immer am Rand der Gesellschaft.
Eine Entdeckung mit Folgen
In solch einer Lage waren Menschen wie Dagmar die letzte Hoffnung. Sie bietet Karoline an, neue Eltern für ihr Baby zu finden. So wie sie es auch für viele andere Frauen getan hat: nicht allein aus Gründen der Wohltätigkeit, es ist auch ein profitables, wenn auch illegales, Geschäft. Karoline zieht sogar bei Dagmar ein. Nach vielen einsamen Jahren (Mann ist als Soldat auf den Schlachtfeldern verschollen) scheint sie endlich ein Zuhause gefunden zu haben.
Doch eines Tages stößt Karoline auf das grausame Geheimnis, das sich hinter Dagmars Einsatz für junge Mütter und ihre Kinder verbirgt. Unglücklichen Frauen verspricht sie, Adoptionen für ihre ungewollten Kinder einzufädeln. Wenig später lässt sie die Kleinen unsanft verschwinden. Diese Entdeckung hat Folgen.
Die Gesellschaft als wahres Monster
Der soziale Horror ist von Anfang an allgegenwärtig in „Das Mädchen mit der Nadel“, doch der psychologische entfaltet sich nach und nach. Karolines triste Existenz in ebenso tristen Armutsquartieren ist angesichts der vor allem auf dunkle Töne setzenden Schwarz-Weiß-Bilder auch visuell zum Gruseln, wenn auch rein ästhetisch ein Genuss. Magnus von Horn orientierte sich an Gruselschinken aus den 30er-Jahren, einige Szenen erinnern an den neuen, jüngst im Kino gestarteten „Nosferatu“-Streifen.
Lichte Momente sind in diesem ebenso kompromisslosen wie sorgfältig komponierten Bilderrausch selten. Mit Karolines Einzug bei Dagmar, die zur Tarnung einen Süßwarenladen betreibt, hellt sich zunächst manches auf. Doch weichen solche Anflüge rasch den düsteren Nuancen, die Karolines neuer Alltag mit sich bringt.
Es würde zu kurz greifen, den Film als Plädoyer für legale Schwangerschaftsabbrüche zu begreifen. Wohl aber zeigt er, dass das wahre Monster die damalige, von sozialer und moralischer Kälte gezeichnete Gesellschaft war. Dieses Monster wiederum brachte andere Monster hervor, selbst wenn sie sich, wie im Fall von Dagmar, als Idealistin oder Idealist betrachteten.
Psychopathin hinter mütterlicher Schale
Die Wucht und der Schrecken dieser fantasievollen Sozialstudie ist nicht zuletzt den beiden Hauptdarstellerinnen zu verdanken. Vic Carmen Sonne bringt die besondere Energie von Karoline zum Klingen: Scheinbar getrieben geistert sie durch ein alptraumhaftes Leben, doch diese meist schweigsame Person nutzt jede Gelegenheit, um eine positive Wendung zu erreichen.
Von Dagmar kann man kaum die Augen abwenden. In höchster Vollendung verkörpert Trine Dyrholm, ohnehin eine der profiliertesten Darstellerinnen dieser Zeit, eine Psychopathin, die sich hinter einer mütterlich-resoluten Schale verbirgt. Diese unheimliche Aura verströmt sie mit jeder Faser, sodass man sich mitunter an manch eine trügerisch-freundliche Hexe aus den Märchen erinnert fühlt. Nur dass eben auch der mit ihr verbundene Schrecken auf der Realität fußt.
Was wiederum zeigt, dass künstlerische Mittel jenseits des Realismus mitunter umso besser das Bewusstsein für die Wirklichkeit schärfen können. Die dänisch-polnisch-schwedische Koproduktion wurde 2024 in Cannes uraufgeführt. In diesem Jahr geht sie als Kandidat Dänemarks in Rennen um die Oscars.
„Das Mädchen mit der Nadel“ (Dänemark, Polen, Schweden 2024), Regie: Magnus von Horn, Drehbuch: Line Langebek Knudsen und Magnus von Horn, Kamera: Michał Dymek, mit Vic Carmen Sonne, Trine Dyrholm, Besir Zeciri u.a., 115 Minuten, FSK ab 16 Jahre.
Im Kino. Weitere Infos zum Film unter mubi.com