Kultur

„Colonos“: Chilenischer Western über Verbrechen der Kolonialzeit

Wenn wirtschaftlicher Erfolg auf brutalstmöglicher Eroberung beruht: Das packende Kinodrama „Colonos“ befasst sich mit den dunklen Seiten von Chiles Gründerzeit.

von Nils Michaelis · 16. Februar 2024
Colonos: ein chilenischer Western

Alexander McLennanm (Mark Stanley), Segundo (Camilo Arancibia) und Bill (Benjamin Westfall) morden und plündern im Dienste wirtschaftlicher Interessen.

 

Diese Landschaft hält, was der Begriff „Ende der Welt“ verspricht. Tief hängen die Wolken über den endlosen und stürmischen Weiten von Feuerland. Doch menschenleer ist die Inselgruppe am untersten Zipfel Südamerikas keineswegs. In „Colonos“ wird sie zum Schauplatz eines blutigen Konflikts. 

Chile, Ende des 19. Jahrhunderts: Großgrundbesitzer José Menéndez kontrolliert weite Teile von Feuerland. Für seine riesigen Schafherden sucht er neue Absatzmärkte. Dafür braucht er eine sichere Verbindung zum Atlantik. Um die entsprechende Route zu finden, heuert er drei Männer an. Sie sollen den Bau einer Straße vorbereiten. Vor allem sollen sie die indigenen Einwohner*innen aus dem Weg schaffen, die den Plänen von Menéndez im Weg sind. Es ist ein Freibrief für Mord und Vertreibung.

Das Spielfilmdebüt des chilenischen Regisseurs und Co-Drehbuchgautors Felipe Galvez Haberle erzählt ein Stück Geschichte, das in Chile bis heute oft ausgeblendet wird: die Verbrechen der Kolonialzeit im eigenen Staatsgebiet. Haberle zeigt die finsteren Seiten der Gründerzeit in der abgelegenen Region. Mit diesem Fokus auf kollektive „Erinnerungslücken“ folgt er einem verbreiteten Muster im südamerikanischen Kino, wenngleich sein Film als kritischer Kommentar zu gewaltsamen „Zivilisationsprozessen“ auch in anderen Weltregionen zu sehen ist.

Mit viel Gewalterfahrung im Sattel

Im Mittelpunkt stehen die Männer, die den Job für Menéndez übernehmen. Anführer Alexander McLennan reitet mit reichlich Gewalterfahrung ins Unbekannte. Als schottischer Lieutenant diente er im Krieg. Nicht minder abgebrüht ist der texanische Söldner Bill. Segundo komplettiert das Trio. Der Chile hat zur Hälfte indigene Wurzeln und wird von den anderen misstrauisch beäugt. In der Tat macht Segundo einige innere Konflikte durch. Innere Spannungen werden zum treuen Begleiter dieser Marodeure.

Schweigsame Reiter vor imposanter Kulisse: Eines von vielen Klischees herkömmlicher Westernfilme, mit denen „Colonos“ ganz bewusst spielt. Doch der Film bietet weitaus mehr. Er lebt vom ganz eigenen Blick auf Geschichte, Menschen und Landschaft. Berge und Wälder wirken mythisch aufgeladen, geradezu unwirklich schön und erhaben. 

Als Kontrast erleben wir den brutalen Alltag jener drei Männer denkbar real und ungefiltert. Die fast schon beiläufige Direktheit, mit der Gewaltexzesse gegenüber Indigenen eingefangen wurden, machen jene Szenen besonders verstörend. 

Verdrängung statt Aufklärung

Einen besonderen Akzent setzt der in mehrere Kapitel unterteilte Film mit einem Zeitsprung. Viele Jahre nach jener Eroberungstour setzt die Handlung wieder ein. Nicht irgendwo in der menschenfeindlichen Natur, sondern in im gediegenen Salon des Anwesens von Menéndez. 

Der „König von Patagonien“ – so der Beiname seines realen Vorbilds – sieht sich einem staatlichen Ermittler gegenüber. Die Verbrechen während der Expansion Richtung Osten haben sich bis in die denkbar weit entfernte Hauptstadt Santiago herumgesprochen. Der Gesandte der Regierung soll aufklären, was damals wirklich geschehen ist. Subtil arbeitet Felipe Galvez Haberle heraus, wie früh die Verdrängung ansetzt. 

Und nicht nur das: Jener Politiker ist in einer weiteren Mission unterwegs. Gemäß der offiziellen Darstellung geht es den Indigenen im jungen chilenischen Nationalstaat prächtig. Das will der Reisende aus Santiago durch Filmaufnahmen beweisen. 

Die Macht der Bilder

Mit seiner Kamera reitet er zu Segundo. Der hat sich längst von Menéndez losgesagt und lebt mit einer Frau Rosa in einem Häuschen am Meer. Vor der Kamera sollen die beiden die perfekt assimilierten Ureinwohner mimen. Doch Rosa findet einen Weg, sich der Zwangsverwertung für die staatliche Propaganda zu entziehen.

Mit jener Schlussszene setzt Chiles Beitrag im Rennen um die diesjährigen Oscars eine entscheidende Pointe. Der selbstbewusste Akt des Widerstandes aufseiten der indigenen Chilen*innen bildet einen Kontrapunkt zu den Momenten der Unterwerfung. Zudem wird deutlich, welche Macht Bilder spielen, wenn es um die Manipulation der Realität im Dienste mächtiger Interessen geht. Und wie die Kamera das Gewehr als Waffe ablöst.

„Colonos“ öffnet die Augen für die Abgründe von aufpolierten Geschichtsauffassungen: nicht nur, aber auch mit überwältigenden Bildern, die nicht viel Worte brauchen.

 

Info:

„Colonos“ („The Settlers“, Argentinien, Chile, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Schweden, Taiwan, Vereinigtes Königreich 2023), ein Film von Felipe Galvez Haberle, Kamera: Simone D’ Arcangelo, mit Benjamin Westfall, Mark Stanley, Camilo Arancibia, Alfredo Castro u.a., 100 Minuten, FSK ab 16 Jahre

Im Kino

https://mubi.com/de/de/films/the-settlers-2023

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