Kultur

„Technofeudalismus“: Kapitalismus – und dann?

Aufrichtiger Held oder Nervensäge? In seinem sechsten Buch „Technofeudalismus“ warnt der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis vor Big Tech. Seine Analysen sind erschreckend. Einige seiner Lösungsvorschläge sind es auch.

von Michael Bröning · 30. November 2023
Was hat den Kapitalismus getötet? In seinem sechsten Buch beschreibt Yannis Varoufakis die katastrophalen Auswirkungen der digitalen Ökonomie.

Was hat den Kapitalismus getötet? In seinem sechsten Buch beschreibt Yannis Varoufakis die katastrophalen Auswirkungen der digitalen Ökonomie.

Je nach Perspektive handelt es sich bei Yanis Varoufakis entweder um einen unerschrockenen Helden, der als griechischer Finanzminister der Austeritätspolitik der EU die Stirn bot – oder um „die größte Nervensäge im Raum“, wie die einmal „Financial Times“ erklärte. Ein Minister ohne Krawatte? Mit einem Motorrad? Un-er-hört, befand zum Höhepunkt der Krise nicht zuletzt der frühere Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.

Aus dem universitären Elfenbeinturm wurde Varoufakis im Zuge der Eurokrise überraschend an die Spitze der griechischen Politik gespült. Dort spielte er neben Premierminister Alexis Tsipras im Sommer 2015 die Rolle seines Lebens: Hier der sich am Ende den europäischen Vorgaben beugende Tsipras, dort der unermüdlich kämpfende Yanis – Don Quijote – Varoufakis. Als „Greek Minister of Awesome“ wurde er nicht zuletzt in deutschen Medien gefeiert.

Ein fiktiver Dialog mit dem verstorbenen Vater

Gefeiert wird nun auch sein mittlerweile sechstes Buch: „Technofeudalism. What killed Capitalism“. Darin beschreibt Varoufaksi, der sich selbst als libertären Marxisten bezeichnet, die katastrophalen Auswirkungen der digitalen Ökonomie. Konzipiert als Nachfolgeband zu seinem Bestseller „Time for Change: Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre“, ist das Werk ein fiktiver Dialog zwischen Varoufakis und seinem verstorbenen Vater: einem liebevoll gezeichneten Dissidenten, kommunistischen Aktivisten und – es lebe der Widerspruch! – leitenden Mitarbeiter eines Stahlunternehmens.

Das Buch beginnt mit einer Erinnerung: Varoufakis Senior erklärt seinem jungen Sohn am abendlichen Kaminfeuer anhand metallurgischer Experimente nicht nur die Wandlungsfähigkeit von Metallen, sondern auch die des kapitalistischen Systems. Jahre später installiert der junge Varoufakis seinem Vater den ersten internetfähigen Rechner. Beeindruckt von der Technik fragt dieser: „Steht jetzt, wo Computer miteinander sprechen, die Überwindung oder die ewige Herrschaft des Kapitalismus ins Haus?“. Das Buch ist eine verspätete Antwort auf diese „Killerfrage“.

griechische Mythologie und popkulturelle Kontrapunkte

Varoufakis geht es um die moralische Einbettung in das große humanistische Ganze. Immer wieder verweist das Buch auf griechische Mythologie und popkulturelle Kontrapunkte. So entsteht ein Spannungsbogen zwischen Prometheus und Minotaurus auf der einen und den zynischen Manipulationen der New Yorker „Mad Men“ auf der anderen Seite.

Die analytische Ausgangsthese lautet: Der Kapitalismus liegt nicht im Sterben, er ist schon lange tot. Der Täter? Der Kapitalismus selbst. Beziehungsweise eine virale Mutation, die die tragenden Säulen des Systems zum Einstürzen gebracht habe. Märkte und Profit nämlich seien Geschichte. „Kapital existiert zwar noch“, so Varoufakis, „nicht aber der Kapitalismus“.

Kleinstaaterei digitaler Cloud-Fürstentümer

Auf den ersten Blick scheint das wenig überzeugend, was Varoufakis selbst einräumt. Ist der Kapitalismus nicht überall? Doch das, was nach Kapitalismus und freien Märkten aussieht, sei heute längst etwas Grundverschiedenes, argumentiert Varoufakis. Die Titanen der digitalen Ökonomie und Big Tech hätten den ohnehin schon pervertierten Hyper-Kapitalismus nun in ein weit düstereres System verwandelt. „Die gute alte, schlechte Zeit“ wurde durch billiges Geld und Unsummen an staatlichen Finanzströmen zum „Technofeudalismus“.

Die Welt zerfalle in digitale Cloud-Fürstentümer, die analog zur feudalen Ordnung des Mittelalters hierarchischen Lehenspyramiden gleichen. Selbst den größten traditionellen kapitalistischen Einzelunternehmen kommt in dieser neuen Konstellation allenfalls die Rolle von Vasallen im Mittelbau zu, die die von der Spitze ausgehenden Manipulationen durch herkömmliche Produktion bedienen.

Die Mehrheit der Menschen bevölkert in diesem System die Untergeschosse. Die „Prols“ fristen in den Maschinenräumen wie in H.G. Wells „Zeitmaschine“ ein trostloses Dasein. Beaufsichtigt von Algorithmen sind sie gefangen in der Vorhölle der Amazon-Lagerhallen. Sie leisten das moderne Äquivalent zur feudalen Fronarbeit.

Nutzer*innen in Geiselhaft

Und der verbleibende Rest? Prekär Abhängige, die das System durch Bereitstellung der eigenen digitalen Identitäten befeuern. Wie in einen Malstrom wandert jeder Click unentgeltlich in die allwissende Cloud. „Die wahre Revolution ist die Verwandlung von Milliarden Menschen in willige Sklaven“, meint Varoufakis.

Die Menschen werden zum Rohmaterial eines Ausbeutungsschemas, das sie zugleich verschlingt und verachtet. Verweigerung ist unmöglich. Denn längst sind wir alle hoffnungslos digital verstrickt. „Die Unternehmen wissen, dass sie uns Nutzer behandeln können, wie es ihnen beliebt. Wann hat irgendjemand das letzte Mal die Terms eines Software-Updates abgelehnt?“, fragt Varoufakis. Letztlich befänden sich die Nutzer*innen in Geiselhaft: „Unsere Kontakte, Freunde, Chat-Histories, Bilder… Wir verlieren alles, wenn wir uns abwenden“, meint Varoufakis.

Erinnerungen an Orwells „1984“

An der Spitze hingegen herrscht eine entrückte Klasse von neofeudalen Paladinen in unermesslichem Reichtum. Diese Klasse – so Varoufakis – sei durch herkömmliche Versuche der politischen Einhegung nicht mehr zu erreichen. Denn anders als die Industrie-Kapitäne zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden die Herrscher*innen der Cloud heute fabelhaft reich, „ohne die Herstellung irgendeines spezifischen Produkts zu organisieren“. Ihre Macht beruht nicht mehr auf Greifbarem, auf Monopolen oder auf unfairen Produktionsbedingungen. In nur scheinbar freien Märkten orchestrieren sie neben der Produktion, Präsentation und Transaktion auch die allumfassende Bewirtschaftung von Bewusstsein.  

Dabei verläuft die Entwicklung global: Aufgespalten in Machtblöcke amerikanischer und chinesischer Provenienz – mit all den damit einhergehenden Risiken der militärischen Eskalation. Die Feudalblöcke erinnern Varoufakis an die „kontinentalen Superstaaten in George Orwells 1984“.

Vision eines post-post-kapitalistischen Bullerbüs

Doch was tun gegen die eindringlich beschriebene Fehlentwicklung? Hier bleibt Varoufakis ungenau und das ist die Schwäche des ansonsten verdienstvollen Buchs. Denn faktisch zerfällt seine Argumentation in zwei Teile. Die ersten Zweidrittel liefern eine ausgezeichnete Analyse der Verwerfungen. Das letzte Drittel aber skizziert einen Gegenentwurf. Und diese Vision – und der Weg dahin – wären bei tatsächlicher Umsetzung wohl kaum weniger erschreckend als die beschriebe desaströse Ausgangslage selbst.

Entworfen wird eine Utopie, die an Marx „deutsche Ideologie“ erinnert. Morgens jagen, nachmittags fischen und nach dem Essen kritisieren? Fast: Bei Varoufakis' Vision pendelt das Leben zwischen Morgenkaffee, gemeinschaftlich kuratiertem Community-Newsletter und dem Wirken in einem anarcho-syndikalem Unternehmen. So weit, so idyllisch.

In einer Art post-post-kapitalistischem Bullerbü werden Entscheidungen von nichtgewählten Räten gefällt. „Die Tyrannei des Landbesitzes“ ist überwunden. Das Privateigentum weitgehend abgeschafft. Eine globale Rechnungseinheit („der Kosmos“) gleicht Entwicklungsunterschiede zwischen globalem Norden und Süden aus, Firmen sind an die Allgemeinheit übergeben und Entscheidungen am Arbeitsplatz werden von digitalen Scherbengerichten gefällt.

„Cloud-Sklaven aller Länder, vereinigt Euch!“

Der Weg in diese Welt bleibt vage. Klar ist für Varoufakis nur: Sozialdemokratische Versuche der Regulierung sind unmöglich. Die linke Mitte sei „moralisch verweichlicht und mitschuldig“ an der existenziellen Bedrohung. Was bleibe sei nur Vernetzung, Rebellion und Revolution. Dabei aber bleibt Varoufakis jeden Beweis schuldig, dass sich der Weg in seine Utopie von den bisherigen blutigen marxistischen Erlösungsversuchen unterscheiden würde. Wiederholt preist er die Leistungen der Sowjetunion – freilich ohne die autoritären Exzesse unter den Tisch zu kehren.

Das Werk endet pathetisch mit dem Aufruf des Kommunistischen Manifests: „Cloud-Sklaven aller Länder, vereinigt Euch!“. Das aber ist entweder eine rein ästhetische revolutionäre Pose oder eine reichlich abenteuerliche Agitation. Aufrichtiger Held oder Nervensäge? In seinem neuesten Buch bleibt Varoufakis beides zugleich. Lesen aber sollte man ihn unbedingt.

Yanis Varoufakis: Technofeudalism. What killed Capitalism, Vintage, 2023, 281 Seiten

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Michael Bröning

ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.

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