Kultur

Ein Tag im Leben des Abed Salama: Der Nahostkonflikt als Mosaik

In einer ungewöhnlichen und tiefgründigen Dokumentation beleuchtet Nathan Thrall die Abgründe des Nahostkonflikts durch die Erinnerung an eine menschliche Katastrophe. Genau das richtige Buch in Zeiten der Polarisierung.
von Michael Bröning · 31. Oktober 2023
Ein Tag im Leben des Abed Salama: Komplexes Kaleidoskop des Nahost-Konflikts
Ein Tag im Leben des Abed Salama: Komplexes Kaleidoskop des Nahost-Konflikts

Ein Grundübel unserer Zeit ist die unselige Kombination aus Selbstgewissheit und Ahnungslosigkeit. Nicht zuletzt in sozialen Medien wandelt sich bekanntlich fast schon im Wochentakt der Geltungsbereich vermeintlicher Expertise. Von Fakten weitgehend unbeeindruckt wandelt sich manche Stimme quasi über Nacht vom allwissenden Pandemieerklärer über den Umweg Militärstratege bis nun zur klarsichtigen Nahost-Kapazität. Solche vermeintlichen Experten wissen alles immer ganz, ganz genau. Nathan Thrall ist kein solcher Experte.

Ein Buch zum richtigen oder falschen Zeitpunkt?

Seit mehr als einem Jahrzehnt lebt Thrall als politischer Analyst in Jerusalem und hat sich mit kritischen Beiträgen etwa im New York Review of Books oder der New York Times international einen Namen gemacht. Zahlreiche Bucherscheinungen sind bislang in ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zehn Jahre lang war Thrall Mitarbeiter der renommierten International Crisis Group.

Nun hat Thrall einen so ungewöhnlichen wie tiefgründigen Blick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt vorgelegt – ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Konflikt nun auf so bedrückende Weise erneut die Schlagzeilen bestimmt.

Sein neuestes Buch: „Ein Tag im Leben des Abed Salama. Anatomie einer Jerusalemer Tragödie“ sorgt derzeit auf beiden Seiten des Atlantiks für Wirbel. Denn seit Beginn des terroristischen Angriffs aus Gaza – und der israelischen Reaktion – scheiden sich die Geister, ob das Buch zum genau richtigen oder genau falschen Zeitpunkt erschienen ist. Weshalb ausgerechnet jetzt über palästinensische Opfer sprechen?

Mehr als eine emotionale Unfallrekonstruktion

Auf den ersten Blick ist das Werk eine auf Interviews beruhende dokumentarische Nachzeichnung einer so tragischen wie letztlich politisch unbedeutenden Fußnote. An einem stürmischen Februartag des Jahres 2012 kollidiert ein mit Kleinkindern vollbesetzter palästinensischer Vorschulbus mit einem Sattelschlepper. Der israelische Araber am Steuer ist viel zu schnell und mit defekten Bremsen auf regennassen Straßen unterwegs. Der Bus überschlägt sich. In den Flammen sterben acht Kinder und eine Lehrerin.

Auf dieser ersten Ebene ist das Buch eine Rekonstruktion des Unfalls. Umstände, Bedingungen und Konsequenzen werden eindrücklich geschildert. Beschrieben werden die Vorbereitungen des Ausflugs – die Vorfreude der Kinder und die Fürsorge der Eltern. Als wissender Leser ist die Unabwendbarkeit der Katastrophe nur schwer verdaulich.

Doch das Buch ist mehr als eine emotionale Unfallrekonstruktion. Denn auf einer zweiten Ebene setzt Thrall durch vielschichtige Einschübe den Kontext des Nahostkonflikts als mitbestimmenden Faktor der Tragik wie ein Mosaik zusammen.

Die alltägliche Tragödie als Reflektion der politischen

Erste Intifada, der Oslo-Friedenprozess, die Etablierung der palästinensischen Autonomiebehörde, der Siedlungsbau, zweite Intifada, die israelische Sperranlage und ihre Auswirkungen auf Palästinenser – und immer wieder Episoden der terroristischen Gewalt: All das fließt ein in die Beschreibungen des Personentableaus.

Doch was genau soll politisch sein an einem Unfall? Wo liegt der Mehrwehrt in der Befassung mit einem lange zurückliegenden, tragischen Unglück? Thrall gelingt es, die menschengemachte alltägliche Dimension der Tragödie im Kleinen als Reflektion der menschengemachten politischen Tragödie im Großen herauszuarbeiten. Denn auf den zweiten Blick zeigt sich, dass die Tragödie eben nicht abseits der Politik geschah.

Das Unglück ereignet sich auf einer Straße im Umland Jerusalems, die nach den Bestimmungen der Oslo-Verträge unter alleiniger Verwaltung Israels steht, jedoch hauptsächlich von Palästinensern genutzt wird. Aufgrund von Checkpoints, der Sperranlage aber auch wegen der vernachlässigten Infrastruktur dieser sogenannten „C-Gebiete“ erreichen Hilfskräfte beider Seiten den Unfallort erst mit reichlich Verzögerung. Zufällige Augenzeugen bemühen sich verzweifelt, mit Feuerlöschern aus ihren Kofferräumen und Wasserflaschen aus Plastik den Brand unter Kontrolle zu bekommen. Doch für acht der Kinder kommt jede Hilfe zu spät. Wie viele mehr wären noch am Leben, wenn Rettungskräfte rechtzeitig an Ort und Stelle gewesen wären? Das ist die politische Frage, die Thrall stellt.

Irrfahrt eines geschockten Vaters

Der Bericht folgt Abed Salama, dem Vater eines der Kinder aus dem Jerusalemer Vorort Anata durch den verhängnisvollen Tag. Nach der telefonischen Benachrichtigung durchlebt Salama eine Odyssey durch Krankenhäuser und Zuständigkeiten, um das Schicksal seines fünfjährigen Sohnes Milad in Erfahrung zu bringen. Auf 250 Seiten begleitet der Leser die Irrfahrt des geschockten Vaters und andrer Eltern durch die Unwägbarkeiten einer vielschichtigen Konfliktlandschaft.

In der Darstellung der Beteiligten – vom Fahrer des Sattelschleppers bis zu israelischen Krankenhausmitarbeitern, Pflegerinnen, palästinensischen Sicherheitskräften und immer wieder den Familienmitgliedern der Betroffenen – entsteht ein ungeschminktes und komplexes Kaleidoskop des Konflikts.

Immer wieder scheinen in den biografischen Skizzen die Auswirkungen der politischen Stagnation und die daraus entstehende Frustration durch. Der Fokus liegt auf der palästinensischen Seite, doch auch die israelischen Akteure werden differenziert dargestellt. Kritik – an der palästinensischen Politik – bleibt nicht aus. Immer wieder werden Ohnmacht und Wut der palästinensischen Figuren auch bezogen auf die eigene Führung zum Ausdruck gebracht.

Und immer wieder scheint auf beiden Seiten die Grausamkeit durch, die nach Jahrzehnten der Auseinandersetzung zu einem charakteristischen Teil des Ringens um das Heilige Land geworden ist: Willkür an Checkpoints, ein byzantinisches System von Passierscheinen, abgeriegelte Nachbarschaften, nächtliche Verhaftungen, Anschläge, Vergeltungsaktionen und so furchtbar wie vermeidbare familiäre Dramen. Hinzu kommt die alltägliche Gewalt in den vernachlässigten Stadtteilen Ostjerusalems mit allgegenwärtiger Kriminalität und Drogen.

Die Menschen im Mittelpunkt

Doch bei all dem liegt der erzählerische Fokus auf der Menschlichkeit. Gezeigt wird der israelische Armeekommandant, der angesichts der schweren Verbrennungen der Kinder die Checkpoints öffnet. Gezeigt werden die Nachbarn aus der israelischen Siedlung, die ihr Mitgefühl durch ein Transparent zum Ausdruck bringen und eine Spendensammlung veranstalten. Gezeigt werden die sich aufopfernden Pfleger auf den israelischen Intensivstationen – aber auch die schockierende Reaktion einiger israelischer High-School-Schüler auf sozialen Medien. Zug um Zug aber werden dezidiert auch die menschlichen Folgen auf der palästinensischen Seite in den Blick genommen – getragen von der Empathie gegenüber dem Leiden der Eltern, denen das Liebste entrissen wird, was sie haben.

In Anbetracht der aktuellen Gewalt in Nahost ist deshalb vielleicht dies die wichtige – progressive – Botschaft des Buches: In Zeiten der so radikalen – und ja immer wieder auch verständlichen – Polarisierung zeigt die anatomische Analyse des menschlichen Leids, wie Menschen im Leid als Menschen trotz aller Unterschiede gleichermaßen zerbrechlich sind. 

Eine komlexe Antwort auf eine simple Frage

Zum Höhepunkt des Kalten Krieges, im Jahr 1985, sang Sting „I hope the Russians love their children too“. Damit wollte er seiner Hoffnung auf Frieden Ausdruck verleihen. Schon damals wurde die subversive Botschaft dieser Hoffnung nicht uneingeschränkt begrüßt. Die Radikalisierung im Konflikt setzt noch stets Prozesse der Entmenschlichung in Gang. Im Nahen Osten ist diese Entmenschlichung aktuell schockierend sichtbar wie nie zuvor.

In diesen Tagen der rohen Emotionen und der Sorgen vor weiterer Gewalt gibt Nathan Thrall deshalb keine simple Antwort auf eine komplexe Frage, sondern eine komplexe Antwort auf eine simple. Denn in seinem Bericht über den tragischen Unfall und den politischen Kontext erscheint keine Seite moralisch unfehlbar. Zugleich aber ist sein Buch ist ein Denkmal für herzzerreißende Liebe, die abseits von Politik als Ausdruck des Menschlichen für sich steht. Und genau deshalb ist es ein Buch zur genau richtigen Zeit.

Nathan Thrall: A Day in the Life of Abed Salama – Anatomy of a Jerusalem Tragedy. Metropolitan Books 2023 255 Seiten

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Michael Bröning

ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.

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