Buch „Troubled": Rob Hendersons Abrechnung mit Eliten in den USA
Er kam von ganz unten und landete ganz oben: Mit seiner autobiografisch gefärbten Abrechnung hat der US-Autor Rob Henderson eine Debatte über vermeintlich abgehobene Eliten in seinem Land ausgelöst. Das Buch schockiert und ist als politische Mahnung zu begreifen.
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Rob Hendersons Buch sollte besonders progressiven Kräften zu denken geben meint Kolumnist Michael Bröning.
Manchmal geht es sehr schnell: Eben noch wurde J.D. Vance von der Literaturkritik für seine Beschreibung der abgehängten weißen Unterschicht in den USA gefeiert. Nun gilt der Autor von Hillbilly Elegie als Vizepräsidentschaftskandidat auf dem Trump Ticket als Verräter des Anstands. Doch Verrat findet nicht immer dort statt, wo man ihn vermutet.
Sicher ist: Eine wirkliche Neuausrichtung der Republikaner als Partei der – wütenden – Arbeiterklasse ist alles andere als ausgemacht. Dennoch lenkt schon der Versuch dieser Milieuübernahme den Blick auf das spiegelbildliche Abwenden von genau dieser Wählerschaft in Teilen des progressiven Milieus.
Dieser postulierte Bruch in der Ausrichtung fortschrittlicher Politik ist das Mobilisierungsthema von Vance, Trump und Co. und eine der Triebkräfte der anhaltenden populistischen Revolte nicht nur in den USA. Glaubwürdig oder nicht: Schon aus diesem Grund sollte der Verlust der sogenannten „kleinen Leute“ vom progressiven Lager als niederschmetterndes Manko wahrgenommen werden – zumindest, sofern sie ihren idelogischen Kern nicht völlig aus den Augen verlieren will.
Kluft zwischen Eliten und Abgehängten
Warum ist die Kluft zwischen politischen Eliten und gesellschaftlich Abgehängten ausgerechnet in den Parteien so groß, die sich dezidiert nie selbst als Eliten verstanden haben? Eine Antwort darauf gab J.D. Vance in seinem besagten Buch.
Eine andere und überzeugendere findet sich in einem bemerkenswerten autobiografischen Buch, das in den vergangenen Monaten in den Vereinigten Staaten Aufsehen erregt hat: „Troubled: A Memoir of Foster Care, Family, and Social Class." Der Autor Rob Henderson schildert darin die Abgründe seiner Kindheit. Diese ist mit dem Begriff „Albtraum“ noch beschönigt beschrieben.
Als Sohn einer drogenabhängigen koreanischen Mutter und einer Leerstelle als Vater lebt Henderson als Kleinkind in einem Auto. Mit vier trinkt er Bier, mit zehn raucht er Marihuana. In einer Erinnerung fesselt ihn seine Mutter an einen Stuhl, um im Nachbarzimmer ungestört high zu werden. Fast forward: Die Mutter wird verhaftet und verschwindet für immer nicht nur aus dem Land, sondern auch aus dem Leben ihres Sohnes.
Odyssee eines Entwurzelten
Was folgt, ist eine Odyssee: Rob gerät in die Obhut des kalifornischen Sozialsystems – oder muss man sagen in dessen Fänge? Im Monatsrhythmus wechseln die zugewiesenen Pflegeeltern. Es geht immer weiter durch die Abgründe von Gewalt, Vernachlässigung, Drogen, Kriminalität und den daraus resultierenden Selbsthass.
Rolltreppe abwärts? Nein, denn der Autor war nie oben. Die wenigen Wegbegleiter sterben an Überdosis oder landen früher oder später im Gefängnis. Rückblickend beschreibt Henderson dann ein Wunder aus Zufällen: Erst durch eine letztlich willkürliche Verpflichtung zum Militärdienst bei der Airforce gelingt ihm eine Neuerfindung – weg von Exzess und Einsamkeit, hin zu Struktur, Verantwortungsbewusstsein und schließlich per Stipendium in das Allerheiligste der US- Oberschicht: die Elite-Universität Yale.
Also doch schlicht ein Abfeiern des amerikanischen Traums? Nein, denn nichts liegt dem Autor ferner als Triumphalismus. Zugleich ist das Buch auch kein Dokument des Selbstmitleids, sondern eine Mahnung – auch und gerade an progressive Politik.
Was heuchlerische Überzeugungen anrichten
Denn eingebettet in die Rückschau findet sich – etwas versteckt im elften Kapitel – ein politisches Memento, das besonders fortschrittlichen Kräften zu denken geben sollte und wohl auch der Grund dafür ist, weshalb das in den USA breit besprochene Buch in progressiven Medien ein bisschen schmallippig gepriesen wird.
Vom Rand der Gesellschaft plötzlich in die elitäre Sphäre der Ivy League katapultiert, reibt sich der Autor immer wieder ungläubig die Augen. Er, der die Abwesenheit familiärer Strukturen, die Folgen von Drogenmissbrauch und die Konsequenzen fehlender öffentlicher Sicherheit über Jahre durchlitten hat, trifft plötzlich auf das, was ihm wie heuchlerische Edel-Überzeugungen eines entkoppelten und egoistischen Milieus vorkommt.
Es sind die vorgeschobenen Glaubenssätze einer sozialen Schicht, die gesellschaftliche Distinktion nicht mehr primär über Konsum, sondern über vermeintlich besonders progressive Haltungen erlangt – nicht zuletzt als Kompensation für die eigenen Privilegien. Henderson prägt den Begriff „Luxusüberzeugungen“ und meint damit Ansichten, die der Oberschicht zu geringen Kosten gesellschaftlichen Status verleihen, während sie den unteren Klassen erheblichen Schaden zufügen.
Wie sich die Oberschicht definiert
„Früher zeigten die Menschen ihre Zugehörigkeit zur Oberschicht durch materielle Güter“, meint Henderson. „Doch heute haben die Wohlhabenden den sozialen Status von Gütern entkoppelt und ihn an Glaubensüberzeugungen gebunden.“
Im Kosmos der Ostküsten-Elite zählen hierzu etwa wohlfeile Rufe nach Abschaffung der Polizei, ein Naserümpfen über traditionelle Familienbilder, die vollmundige Ermutigung zu Experimenten mit illegalen Drogen oder das Vermeiden von Werturteilen über physische Eigenschaften wie Übergewicht. Doch, so beobachtet Henderson: Diese gesellschaftlichen Empfehlungen werden zwar als Richtschnur besungen, aber bei sich selbst dann doch nur sehr, sehr selektiv zur Anwendung gebracht.
Es seien eben gerade diese Überzeugungen, die das traditionelle Aufstiegsversprechen linker Kräfte an marginalisierte Gruppen nicht beflügeln, sondern konterkarieren. Luxusüberzeugungen untermauern so den sozialen Status einer Elite, haben aber konkrete Kosten für diejenigen, die sich diese Kosten nicht leisten können.
Alles schockiert, vieles überzeugt
„Die Elite befürwortet die Abschaffung der Polizei, die Entkriminalisierung von Drogen oder das Konzept von ‚weißem Privileg‘, weil dies ihren Status stärkt. Sie weiß, dass die Umsetzung dieser Maßnahmen sie weniger kostet als andere“, meint Henderson.
Und weiter: „Die Befürwortung von sexueller Promiskuität, Drogenexperimenten oder der Abschaffung der Polizei sind ausgezeichnete Mittel, die Zugehörigkeit zur Elite zu demonstrieren. Denn sie kosten die Elite weniger als mich“, so der Autor. „Wären alle Drogen legal und leicht zugänglich gewesen, als ich 15 war, wäre dieses Buch nie erschienen.“
Alles an dem Werk ist schockierend, vieles überzeugend, manches etwas zu pauschal und simpel. Politikvorschläge fehlen fast vollständig, wie Kritiker von links verschiedentlich plausibel bemängeln. Doch zu fragen ist auch, ob eine Biografie Politikentwürfe debattieren muss. Zumal manche Mäkelei tatsächlich ein bisschen wie eine Erwiederung auf Kritik riecht, die zu punktgenau trifft.
Eine wichtige Mahnung
Der klare Mehrwert des Buches liegt deshalb trotz einiger Schwächen gerade aus sozialdemokratischer Perspektive in der Erinnerung daran, dass das Versprechen des Aufstiegs, die Förderung von Verantwortungsbewusstsein, Gemeinsinn, Sicherheit und Zusammenhalt letztlich nur aus der Perspektive derer, die ganz oben stehen, an Bedeutung verlieren darf.
Als Autor scheint Rob Henderson wenig Sympathie für die Linke insgesamt und für die Demokratische Partei in den Vereinigten Staaten im Besonderen übrig zu haben. Doch für seine wichtige autobiografisch unterfütterte Mahnung sollten progressive Kräfte diesem ganz und gar nicht klassisch progressiven Autor deshalb eigentlich dankbar sein.
Rob Henderson: A Memoir of Foster Care, Family, and Social Class. Gallery Books, 336 Seiten