Wie der Ukraine-Krieg die Vereinten Nationen verändert
IMAGO/Agencia EFE
Am 24. Februar 2022 begann der Krieg in der Ukraine. Wie wurde Russlands Überfall damals bei den Vereinten Nationen aufgenommen?
Mit einer Mischung aus Unglauben und Schock. Als die russischen Truppen am 24. Februar die Grenze zur Ukraine überschritten, fand schließlich zeitgleich eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates statt. Über Kurznachrichten auf ihren Handys erfuhren die versammelten Diplomaten, was da gerade in der Ukraine passierte. Dieser Rückfall in Zeiten, die man für überwunden geglaubt hatte, war eine reichlich ernüchternde Erfahrung. Aber die UN sind groß und das Bild ist vielschichtig. Denn natürlich ist auch das Entsetzen über den Krieg ungleich verteilt. Manchmal habe ich den Eindruck, die Verlängerung der Frontlinien in der Ukraine verläuft heute, ein Jahr nach Beginn des Krieges, auch mitten durch die Vereinten Nationen.
Die Vereinten Nationen wurden einst dazu gegründet, Konflikte zu entschärfen und zu vermeiden. Sind sie in diesem Konflikt gescheitert?
Ja und nein. Dass die Vereinten Nationen diesen Konflikt bisher nicht lösen konnten, heißt nicht, dass sie untätig geblieben sind. Ganz im Gegenteil. Es hat eine Fülle von Aktivitäten gegeben, nicht nur im Sicherheitsrat, sondern auch in der UN-Generalversammlung. Allein der Sicherheitsrat hat sich im vergangenen Jahr 50 mal mit dem Krieg beschäftigt. Und die UN-Generalversammlung hat eine ganze Serie von Resolutionen verabschiedet. Das hat die Gewalt zwar nicht beendet, aber ist dennoch positiv zu bewerten. Denn ohne die UN gäbe es schlicht keine globale Plattform, auf der die verschiedenen Fäden zusammenkommen. Dabei war zu Beginn des Krieges nicht absehbar, welche Rolle die Vereinten Nationen in diesem Konflikt überhaupt spielen würden. Heute sehen wir Diplomatie mit harten Bandagen im Sicherheitsrat und ein globales Ringen um Einfluss in der Generalversammlung. Wir sehen eine neue wiederbelebte UN-Reformdebatte und wichtige humanitäre Impulse der UN. Natürlich kann man immer sagen, das Glas sei halb leer. Aber ich freue mich manchmal, dass das Glas überhaupt noch auf dem Tisch steht.
In der UN-Vollversammlung gab es in diesem ersten Kriegsjahr mindestens zwei bemerkenswerte Abstimmungen. Haben Sie die klaren Voten überrascht?
Erst einmal sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass sich die Generalversammlung in dem Moment als gesprächsfähig erweist, in dem der Sicherheitsrat aufgrund der Blockade zu keinem Abstimmungsergebnis kommen kann. Auch wenn ihre Beschlüsse im Gegensatz zum Sicherheitsrat nicht rechtsverbindlich sind, ist die Generalversammlung mit den inzwischen verabschiedeten Resolutionen ein wirklich einzigartiges Barometer, an dem abgelesen werden kann, wo die Weltöffentlichkeit steht. Das Problem ist nur: Je genauer man hinschaut, desto weniger klar und eindeutig erscheinen die Ergebnisse. Einige der Resolutionen wurden von mehr als 140 Staaten angenommen, einige nur von etwas mehr als 90 – wie etwa beim Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat. Aber selbst in den Resolutionen zur Verurteilung des Krieges haben sich fast 40 Staaten enthalten – nicht zuletzt China und Indien, aber auch Brasilien oder Südafrika. Wenn man die Bevölkerungszahl zugrunde legt, dann wird deutlich, dass sich eben nicht eine große Mehrheit der Weltbevölkerung klar gegen den Krieg positioniert hat, auch wenn das der Wunsch in vielen westlichen Hauptstädten ist. Wir schauen deshalb mit großer Spannung auf die aktuell anstehende Abstimmung der Ukraine-Resolution zum Jahrestag des Krieges, die jetzt von der Ukraine und europäischen Staaten in die Generalversammlung eingebracht wird.
Was bewegt die Staaten, sich anders zu positionieren als die Mehrheit?
Die Gründe sind vielfältig und reichen von einer engen Verbundenheit zu Russland bis zu dem Eindruck, die Befassung mit dem Krieg bei den UN schieße über das Ziel hinaus. Manch ein Land des globalen Südens hat die Sorge, ihre Entwicklungsagenda werde durch den Krieg torpediert und ihre legitimen Vorhaben der Armutsbekämpfung, der Überwindung von Ungleichheit geraten ins Hintertreffen, weil der Fokus der Weltöffentlichkeit und vor allem der Fokus der westlichen Öffentlichkeit so stark auf die Ukraine ausgerichtet ist. Und auch zurückliegende eigene Rechtsbrüche westlicher Staaten sind hier natürlich nicht vergessen.
Bei der Münchner Sicherheitskonferenz hat China angekündigt, eine Friedensinitiative starten zu wollen. Wären nicht eigentlich die Vereinten Nationen der richtige Rahmen dafür?
Die Vereinten Nationen könnten mittel- bis langfristig durchaus eine Rolle der Konfliktlösung spielen. Kurzfristig aber sind sie nicht sonderlich gut dafür aufgestellt, einen Konflikt zu lösen, der zwischen permanenten Mitgliedern des Weltsicherheitsrates mehr oder weniger offen ausgetragen wird. Wir haben im vergangenen Jahr einzelne erfolgreiche punktuelle Initiativen des UN-Generalsekretärs beobachtet, etwa in der Evakuierung des Stahlwerks in Mariupol oder in der Frage von Getreidelieferungen über das Schwarze Meer. Trotzdem waren dass keine großen Durchbrüche. Die Einschätzung des Generalsekretärs scheint derzeit zu sein: Die Zeit ist noch nicht reif für eine wirklich umfassende diplomatische Initiative Seitens der UN. Auch das politische Kapital eines UN-Chefs ist nicht grenzenlos. Und hinzu kommt eine ganz offensichtliche Skepsis der russischen Seiten gegenüber dem Generalsekretär. Das schränkt die Möglichkeiten von Antonio Guterres massiv ein. Gut möglich, dass die UN langfristig eine größere Rolle spielen. Bis dahin werden sie versuchen, humanitär behilflich zu sein und über die Generalversammlung zu schaffen, was zu schaffen ist.
Kurz nach dem russischen Angriff sprach Bundeskanzler Olaf Scholz davon, die Welt erlebe eine „Zeitenwende“. Der Begriff spielt seither in Deutschland in vielen Zusammenhängen eine Rolle, in den USA auch?
Der Begriff „Zeitenwende“ hat in den USA etwas geschafft, was nur wenigen deutschen Begriffen vergönnt ist: Neben dem Begriff „Kindergarten“ und „Schadenfreude“ hat er Eingang in das amerikanische Vokabular gefunden – zumindest bei den Diplomaten der Vereinten Nationen. Das ist ein Hinweis darauf, wie sehr man hier auch auf Berlin schaut seit dem vergangenen Jahr. Alles in allem ist die Zeitenwende und auch die deutsche Positionierung im Umfeld der UN in New York sehr positiv aufgenommen worden. Ich habe im vergangenen Jahr hier in Gesprächen nicht ein einziges Mal den Vorwurf gehört, der Bundeskanzler stünde auf der Bremse oder agiere zu zögerlich. Im Gegenteil. Man schätzt durchaus, wie Olaf Scholz seinen eigenen Weg absteckt in Solidarität mit der Ukraine auf der einen und dem Bewusstsein dafür, dass dieser Krieg eben auch enden muss.
Kann man sagen, dass der Ukraine-Krieg auch eine Art Zeitenwende für die Vereinten Nationen ist?
Das wird sich zeigen. Die Vereinten Nationen stehen ja schon länger in der Kritik und es werden Reformen gefordert. Der Generalsekretär hat für das Jahr 2024 einen Summit of the Future in Aussicht gestellt, bei der es um die Zukunft der Vereinten Nationen gehen soll und in dessen Vorbereitung die Bundesrepublik Deutschland in herausgehobener Stelle einbezogen ist. Der Prozess ist reichlich komplex und vielschichtig und wie immer bleibt abzuwarten, was am Ende dabei heraus kommt an Konkretem. Doch sicher ist: Wir werden in den nächsten zwei Jahren eine intensive Debatte erleben, in der Regierungen, internationale Organisationen, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen weltweit sich mit der Frage beschäftigen werden, wie die Vereinten Nationen fit für die Zukunft werden. Auch eine Reform von Weltbank und Internationalem Währungsfonds erscheint in diesem Zusammenhang realistisch. Der Krieg in der Ukraine könnte hier insofern durchaus Katalysator für Reformen sein.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.