Buch „The Road to Freedom“: Stiglitz' Plädoyer für eine andere Freiheit
Mit seinem neuen Buch „The Road to Freedom“ liefert Nobelpreisträger Joseph Stiglitz einen wichtigen Impuls zu einer kontroversen Debatte. Mit seine klugen Plädoyer für progressive Freiheit soll es gelingen, dem Populismus den Nährboden zu entziehen.
vorwärts
Mit „The Road to Freedom“ liefert Joseph Stiglitz ein kluges Plädoyer für progressive Freiheit, meint Buch-Kolumnist Michael Bröning.
Kann ein US-Wirtschaftswissenschaftler gleichzeitig als intellektueller Großmeister, engagierter Kritiker, klarsichtiger Prophet und als richtungsweisendes ökonomisches Gewissen in Erscheinung treten? Ja, durchaus – zumindest, wenn er Joseph E. Stiglitz heißt.
Seit Jahrzehnten prägt der an der Columbia Universität in New York lehrende Nobelpreisträger die globale wirtschaftspolitische Debatte durch seine pointierten und unbestechlichen Beiträge. Stiglitz war unter anderem Chefökonom der Weltbank und Berater Bill Clintons und ist bis heute als Think-Tanker und Akademiker im Dauereinsatz. Ganz zu schweigen von seiner Autorentätigkeit.
Mit 81 Jahren hat er mittlerweile mehr Bestseller geschrieben, als die meisten Menschen in ihrem Leben gelesen haben. Kein Wunder also, dass die New York Times ihn zu den 100 einflussreichsten Intellektuellen der Welt zählt. Und ebenfalls klar, dass sein neuestes Werk „The Road to Freedom: Economics and the Good Society“ vor diesem Hintergrund gerade in progressiven Kreisen auf größtes Interesse stößt. Höchste Zeit also, das Werk etwas genauer unter die Lupe zu nehmen!
Ein Gegenentwurf zur Friedrich Hayek
Schon der Titel ist beachtenswert. Denn der ist nicht nur eine programmatische Beschreibung, sondern viel mehr eine kaum kaschierte Kampfansage. Schließlich bezieht er sich auf ein ganz gegenläufiges Werk, das vor genau 80 Jahren vom österreichisch-britischen Ökonom Friedrich Hayek vorgelegt wurde: „The Road to Serfdom“ („Der Weg zur Knechtschaft“). In ihm formulierte Hayek einen flammenden Appell für Marktgläubigkeit, der bis heute einflussreich geblieben ist. Deshalb nun also „The Road to Freedom“.
Angesichts der Macht marktradikaler Überzeugungen formuliert Stiglitz ein überzeugendes Plädoyer dafür, den öffentlichen Diskurs aus der Umklammerung von Hayek und Co. zu befreien. Der Schlüsselbegriff – und das ist neu und überzeugend – ist für Stiglitz dabei der Begriff der Freiheit. Ihn gilt es, den politischen Rechten zu entziehen und ihn progressiv für die Linke nutzbar zu machen – ein Anliegen, das auch beim Verfasser dieser Zeilen aus dokumentierten Gründen auf Sympathie stößt.
Die Ambivalenz des Freiheitsbegriffs
Gleich zu Beginn erinnert Stiglitz dabei an den britischen Freiheitsphilosophen Isaiah Berlin, der stets auf die Ambivalenz des Freiheitsbegriffs verwies. Des einen Freiheit bedingt die Unfreiheit des anderen, so Berlin. Und ungebremste Freiheit schlägt in ihr Gegenteil um. „Freiheit für die Wölfe bedeutet den Tod der Schafe“, zitiert dann auch Stiglitz pointiert. Für ihn ist klar: „Vor mehreren Jahrzehnten hat die Rechte in den Vereinigten Staaten die Rhetorik der Freiheit an sich gerissen, ebenso wie den Patriotismus und die amerikanische Flagge.“
Parteien der linken Mitte dürften deshalb nicht länger zulassen, „dass nur eine Seite die Definition der Freiheit bestimmt und für ihre ökonomischen und politischen Zwecke instrumentalisiert“. Es sei höchste Zeit, „sich den Begriff wieder anzueignen“ und „die Freiheitsagenda für sich zu gewinnen“. Schließlich sei „die aktuelle rechte Interpretation der Freiheit oberflächlich, fehlgeleitet und ideologisch motiviert“.
Anders als die politische Rechte, die sich stets am negativen Freiheitsbegriff (als Freiheit von Einschränkungen) orientiert, setzt Stiglitz – ebenfalls analog zu Berlin – auf eine positive Variante der Freiheit. Für ihn besteht Freiheit „in dem Strauß an Möglichkeiten, die den Menschen zur Verfügung stehen", Und eben nicht in rein abstrakten Rechten, die lediglich unter Vorbedingungen umgesetzt werden können.
Mehr als ein Dartwerfen auf seine Lieblingsscheibe
Für Kenner der Stiglitz’schen Denke wenig überraschend, schlägt das neue Werk dabei einen direkten Bogen zur Ökonomie. Und noch weniger überraschen dürfte dabei, dass auch die Nemesis jeder progressiven Wirtschaftspolitik als Irrweg aller Irrwege vorgeführt wird: Der Neoliberalismus. Vorhersagbar? Das schon.
Doch Stiglitz bietet mehr als nur Dartwerfen auf eine altgediente Lieblingszielscheibe. Die aktuelle politische Entwicklung in Sachen Populismus nämlich belege die Dringlichkeit eines ökonomisch tiefenscharfen Blicks auf die Krise der Gegenwart. „Die Verbrechen des Neoliberalismus bestehen darin, Finanzmärkte in die größte Finanzkrise seit einem Dreivierteljahrhundert zu treiben, den Handel zu befreien, um die Deindustrialisierung voranzutreiben, und Unternehmen in die Lage zu versetzen, Konsumenten, Arbeiter und die Umwelt gleichermaßen auszubeuten", kritisiert Stiglitz.
Diese Art von Kapitalismus aber verstärke gerade die von Rechts so besungene Freiheit gesellschaftlich eben nicht. Im Gegenteil, sie vergrößere lediglich die Freiheit der Wenigen auf Kosten der Vielen. Die Konsequenz sei bedrohlich: Am Horizont erscheine „eine 21. Jahrhundert-Version des Faschismus“.
Der Anstieg des Autoritären erfolge derzeit schließlich „nicht in Ländern, wo die Regierung zu viel, sondern wo sie zu wenig macht, um Individuen gegen Arbeitslosigkeit, den Stress der Anpassung an die Globalisierung und den technischen Wandel sowie den Druck der Migration zu schützen“. Das aber sei exakt die „Freiheit der Wölfe“, vor der Berlin stets gewarnt habe.
Für eine Wirtschaft, die dem Menschen dient
Bei aller Grundsätzlichkeit bemüht sich Stiglitz dabei zugleich, den Anspruch des Buches zurückzuschrauben. Es gehe ihm nicht um Details, sondern um das Öffnen der Gedankenwelt – eine etwas merkwürdige Selbstbeschränkung angesichts der Länge des Buches. 384 Seiten und kein Platz für Konkretes? Die Alternative zum Status quo wird jedenfalls nur in groben Zügen skizziert. Ziel sei ein „progressiver Kapitalismus“, der nicht nur das Kapital, sondern die menschliche Existenz ganzheitlich betrachtet. „Bildung, Vertrauen und eine natürliche Umwelt“: Auch diese Dinge müssen endlich als Werte begriffen werden, die in neoliberalen Modellen schlicht nicht vorkommen.
Benötigt werde eine wiederbelebte Soziale Demokratie, die das Wohl aller Bürger*innen ins Zentrum rückt und über materielle Werte hinausgeht. Menschliche Entfaltung als Ziel unserer Wirtschaft und unseres Sozialsystems: Gesundheit, Bildung und ein gewisses Maß an materiellem Wohlstand seien dafür notwendig, aber nicht ausreichend. „Die Wirtschaft muss der Gesellschaft dienen, nicht umgekehrt“. Amen, möchte man da sagen. Denn all das ist überzeugend und gut sozialdemokratisch. Und als Lob der Sozialen Demokratie mit Blick auf die US-Leserschaft scheint das Werk dann letztlich auch konzipiert.
Ein fruchtbarer Boden für den Populismus
Doch trotz der Fülle der überzeugenden Argumente bleibt an einigen Stellen das Gefühl, Argumente – und Gegner*innen – seien etwas aus der Zeit gefallen. Selbst der nicht der reaktionären Umtriebe verdächtige britische „Guardian“ kommt zu dem Schluss, Stiglitz treibe „das Argument ein bisschen zu weit“. Denn trotz allen Schwierigkeiten schreiben wir eben nicht das Jahr 1981 als Ronald Reagan Regierungen pauschal zum Problem erklärte.
„Wir haben gesehen, dass die sozialen Demokratien, die unserer Vision eines progressiven Kapitalismus am nächsten kommen, die stärksten Demokratien am Laufen halten konnten“, so Stiglitz. „Die Länder, die die Glaubenssätze des Neoliberalismus am weitesten verfolgt haben, haben sich am weitesten Richtung Populismus entwickelt.“ Heute aber sei es der Neoliberalismus, der Glaube an den unregulierten Markt, der zu massiven Ungleichheiten geführt hat und „einen fruchtbaren Boden für den Populismus bereitet“ habe.
Sicher: Im Großen und Ganzen ist das stimmig. Doch weshalb geht auch in den weniger neoliberal beeinflussten Gesellschaften Mitteleuropas wie in Schweden oder Frankreich der Anstieg des Populismus ungebremst weiter?
Die Linken werden verschont
Etwas unklar bleibt auch die Umsetzung der Alternativen. Ein wenig theatralisch schreibt Stiglitz, es gehe darum, „in Harmonie mit der Natur zu leben“. Ziel sei ein ökonomisches System, das „die Menschen dazu ermutigt, ehrlich und emphatisch zu sein und die Fähigkeit zu haben, miteinander zu kooperieren“. In Ordnung. Aber wie genau ist das politisch zu erzielen? Wie lebt man denn ganz konkret in „Harmonie“ mit der Natur? Hier bleiben die Empfehlungen trotz der legitimen Anliegen seltsam einsilbig.
Ebenfalls ausgespart bleibt die etwas unbequeme Tatsache, dass leider auch in Teilen der politischen Linken derzeit durchaus autoritäre Impulse zu beobachten sind. Stiglitz schimpft zurecht über Trump, Orban und Co. Doch auch manche links angesiedelte Aktivistenkreise haben sich, wenn man ehrlich ist, durchaus von demokratischen Prinzipien entfernt. Gut möglich, dass Stiglitz auch dies als fragwürdig empfindet. Doch wenn, dann behält er diese Bauchschmerzen jedenfalls in diesem Buch für sich. Deshalb: Vielleicht nicht das allergrößte, aber dennoch ein starkes, ein wichtiges, ein großes Buch von einem der ganz Großen.
Joseph Stiglitz: The Road to Freedom: Economics and the Good Society, Norton 2024, 384 Seiten, 23,52 Euro