Präsidentschaftswahl in Uruguay: Vier Lehren für die politische Linke
Der linke Kandidat Yamandú Orsi hat sich bei der Präsidentschaftswahl in Uruguay durchgesetzt. Auch wenn das Land gerade mal so viele Einwohner hat wie Berlin, lassen sich für die politische Linke aus Orsis Erfolg wichtige Schlüsse ziehen – auch in Berlin.
IMAGO / Xinhua
Der linke Kandidat Yamandu Orsi hat die Präsidentschaftswahl in Uruguay gewonnen.
In Uruguay hat das Mitte-Links-Parteienbündnis Frente Amplio (FA) die Präsidentschaftswahl in der Stichwahl mit 49,8 Prozent zu 45,9 Prozent für sich entschieden. Im Superwahljahr 2024 ist das eine selten positive Nachricht. Doch warum sollten Wahlen in einem kleinen Land im tiefen Süden Lateinamerikas, das gerade so viele Einwohner*innen wie Berlin hat, von Interesse sein?
Funktionierender Rechtsstaat und Debatten ohne Hass
Inmitten der viel zitierten Demokratiekrise und angesichts eines weltweiten rechtsextremen Siegeszugs kann es durchaus hilfreich sein, von den Wahlen der anderen zu lernen. Angesichts der globalen Demokratiekrise und des Aufstiegs rechtsextremer Kräfte bietet ein Blick auf Uruguays politische Landschaft wertvolle Lektionen. In einer extrem polarisierten Region ist Uruguay seit langem ein demokratisches Vorbild – ein Land, in dem der Rechtsstaat funktioniert und politische Debatten geführt werden, ohne in Hass zu verfallen.
Die Frente Amplio ist eine der letzten verbleibenden linken Volksparteien des Subkontinents. Dabei ist „Partei“ ist nicht die richtige Bezeichnung: Es handelt sich um ein Bündnis aus 30 Parteien und Bewegungen, das ideologisch von der kommunistischen Partei bis hin zu den Christsozialen reicht. Seit 53 Jahren schafft man es, diese breite Dauerkoalition hinter einem gemeinsamen Programm („Vielfalt in der Ideologie, Einheit im Programm“) politisch konsens- und handlungsfähig zu halten. Lange vor der Fragmentierung der Parteispektren weltweit haben in Uruguay linke Kräfte erkannt, dass man besser nicht erst nach den Wahlen anfängt, programmatische Bündnisse zu suchen.
„Vielfalt in der Ideologie, Einheit im Programm“
2004 war es der FA erstmals gelungen, das Wechselspiel zwischen Konservativen und Liberalen mit einer linken Alternative aufzubrechen und 15 Jahre (2005 bis 2020) zu regieren. In dieser Zeit wurden nicht nur Abtreibung, Cannabis und die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert, sondern prekäre Beschäftigung erheblich reduziert und die öffentliche Daseinsfürsorge in den Bereichen Gesundheit und Bildung ausgebaut.
Die Energiematrix wurde komplett auf Erneuerbare umgestellt und eine progressive Steuerreform umgesetzt. Innovative Konzepte für ein öffentliches Pflegesystem wurden in der Region zur Referenz. In der dritten Regierungsperiode, als grundsätzliche Reformen angestanden hätten und das Geld knapper wurde, war dann die Luft raus. 2019 verlor das Linksbündnis die Wahlen knapp. Wie wurde nun die „Wiedergeburt“ geschafft? Vier Lehren, die wir aus dem Erfolg der FA ziehen können:
Erstens: Es braucht eine Partei und Dialog mit der Basis
Es braucht eine Partei und den Dialog mit der Basis. Als die FA in die Opposition ging, leckte man sich eine Zeit lang die Wunden und besann sich dann auf die Mitglieder, die an der Basis in ihren Ursprungsparteien, aber eben auch als FA-Ortsgruppen aktiv und gut organisiert sind. Unter dem Motto FA Te Escucha („Die FA hört Dir zu“) diskutierte die Parteispitze im ganzen Land mit Anhänger*innen, aber auch mit Gegner*innen, Verbänden und Bewegungen über Einschätzungen und Prioritäten, die in einer weiteren Debattenrunde zurückgespielt wurden und in das Wahlprogramm 2024 einflossen.
Bei den Parlamentswahlen holte die FA im Senat mit einem Anstieg von 13 auf 16 Sitzen (von 30) die Mehrheit. Im Abgeordnetenhaus entstand ein Patt: Zünglein an der Waage zwischen FA- und konservativem Flügel wird mit zwei Abgeordneten die Partei Identidad Soberana sein, eine identitäre Parteineugründung. Dennoch konnte die FA ihre Sitzzahl um sechs erhöhen, vor allem dank Kandidat*innen aus ländlichen Provinzen, die dort erstmals Mandate gewannen.
Zweitens: Koalitionen verhandelt man vorher – und man hält sich an Beschlüsse
Koalitionen verhandelt man vorher – und man hält sich an Beschlüsse. In den parteiinternen Vorwahlen traten – neben unbedeutenden Kandidat*innen – die beiden stärksten Vertreter*innen der FA-Parteien gegeneinander an: Carolina Cosse, Gouverneurin der Hauptstadt und Kandidatin der Kommunistischen Partei, sowie Yamandú Orsi, Gouverneur der Provinz Canelones und Vertreter des Movimiento de Participación Popular (MPP), das aus der früheren Guerillabewegung Tupamaros hervorging und den ehemaligen Präsidenten José Mujica stellte. Die Regeln waren klar: Der Zweitplatzierte wird Vize, und der Wahlkampf wird geschlossen und auf Basis eines gemeinsamen Programms geführt. Das Ergebnis war ein starkes komplementäres und paritätisch besetztes Duo, das die beiden größten Parteien des Bündnisses vereinte.
Im Gegensatz dazu scheiterte die konservative Koalition der Partido Nacional, die sich aus fünf Parteien von neoliberal bis ultrarechts zusammensetzt, an mangelnder Erfahrung und Disziplin. Trotz der offensichtlichen Notwendigkeit einer gemeinsamen Strategie – die Partido Nacional erzielte lediglich 27 Prozent – zerstritten sich die Koalitionäre sowohl in der Regierung als auch im Wahlkampf heillos.
Drittens: Es braucht eine klare Linie
Es braucht eine klare Linie. Laut Umfragen war ein klarer Wahlsieg der FA im ersten Wahlgang erwartet worden, deshalb waren die Ergebnisse ein harter Schlag: Die Koalitionsparteien konnten nicht die absolute Mehrheit erreichen, es kam zur Stichwahl. In den internen Vorwahlen hatte Yamandú Orsi, der für eine mittigere Auslegung des gemeinsamen FA-Programms steht und gute Kontakte zu Bauern und Agrounternehmern hat, deutlich vor der linkeren Carolina Cosse gelegen.
Daraus zog die Frente den Schluss, dass bei den Wahlen mittige Catch All-Positionen zum Sieg führen würden. Der Kandidat solle sich nicht festlegen und eher seltener in den Medien auftreten. Dies und die gleichzeitig stattfindende Volksabstimmung über die Rentenreform der Regierung, die zu Spaltungen in der FA und mit dem Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT führte, erklären das enttäuschende Ergebnis.
Viertens: Wahlen bedeuten, echte Wahlmöglichkeiten zu bieten
Viertens: Wahlen bedeuten, echte Wahlmöglichkeiten zu bieten. Die FA ging mit einem umfassenden Programm in die Wahlen, das Werte wie Partizipation, Inklusion und soziale Gerechtigkeit vertritt. Wie diese Ziele konkret erreicht werden sollten, blieb jedoch Interpretationssache und wurde im Wahlkampf oft nur vage vermittelt. Der Präsidentschaftskandidat der FA blieb insbesondere in Schlüsselbereichen wie dem Wirtschaftsmodell und öffentlicher Sicherheit unkonkret. Erst nach dem unerwartet schwachen Abschneiden in der ersten Wahlrunde änderte das Bündnis seine Strategie: Yamandú Orsi trat in zahlreichen Medienauftritten stärker in den Vordergrund und verlieh der Kampagne mehr programmatische Klarheit.
Bei der Stichwahl spielte jedoch weniger die Begeisterung für die FA als vielmehr die Ablehnung der Alternative eine entscheidende Rolle. Der regierenden Koalition fehlte mit Kabinettschef Álvaro Delgado ein überzeugender Kandidat. Amtsinhaber Luis Lacalle Pou, dessen Popularität von den Konflikten und Korruptionsskandalen seiner Regierung weitgehend unberührt blieb, wäre wohl wiedergewählt worden, hätte die uruguayische Verfassung eine direkte Wiederwahl erlaubt. Der 51-jährige Spross einer prominenten Präsidentenfamilie dürfte die kommenden fünf Jahre in der Opposition nutzen, um seine Rückkehr an die Staatsspitze vorzubereiten.
In Uruguay gibt es (noch) keine ideologischen Querschläger. Man steht (mit Nuancen) zu demokratischen Institutionen, staatlicher Daseinsverantwortung und Multilateralismus. Catch All-Positionen mögen hilfreich sein, um Wahlen zu gewinnen. Um dann in Parteienbündnissen zu regieren, braucht es aber klare Aussagen und Absprachen, ein erkennbares Profil. Die Pattsituation im Abgeordnetenhaus wird sowohl Verhandlungsgeschick als auch eine Brandmauer erfordern. Ob und wie Yamandú Orsi seine Regierung zu diesem Profil, zu Ergebnissen mit progressiver Handschrift wird führen können, wird sich mit der Kabinettsbildung und den ersten Arbeitsschritten abzeichnen. Dem Parteienbündnis Frente Amplio ist aber jetzt schon zu wünschen, dass Regierungs- nicht über Parteiarbeit gestellt wird und der in der Opposition erfolgreich wiedergewonnene Dialog mit der Basis nicht verloren geht.
Zuerst erschienen im IPG-Journal.
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Uruguay. Zuvor war sie u.a. Leiterin des Büros in Argentinien und Leiterin des Referats Lateinamerika und Karibik der Stiftung in Berlin.