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Olaf Scholz und Katarina Barley im Interview: „Die EU ist Zuhause“

In einer Woche wählt Europa. Im Interview sprechen SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley und Bundeskanzler Olaf Scholz darüber, wie der Krieg in der Ukraine die EU verändert hat und warum „Frieden sichern“ eine der Botschaften ihres Wahlkampfs ist.

von Kai Doering · 31. Mai 2024
Katarina Barley und Olaf Scholz über Europas Zukunft: Man sollte scheinbare Selbstverständlichkeiten nicht für selbstverständlich erachten.

Katarina Barley und Olaf Scholz über Europas Zukunft: Man sollte scheinbare Selbstverständlichkeiten nicht für selbstverständlich erachten.

Der Ende vergangenen Jahres verstorbene Jacques Delors hat gesagt: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“. Welche Gefühle haben Sie gegenüber der Europäischen Union? 

Katarina Barley: Die EU ist für mich Zuhause. Mein Vater ist Brite. Meine Kinder sind zu je einem Viertel deutsch, britisch, niederländisch und spanisch. Mein jetziger Mann ist Niederländer. Ich wohne im Vierländereck zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg. Ich verbringe mein Leben also mitten in Europa.

Olaf Scholz: Für mich steht Europa für ein Miteinander sehr unterschiedlicher Kulturen. Die Stärke Europas erwächst aus dieser Vielfalt. Außerdem steht Europa für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Neben dem Frieden zwischen Ländern, die sich über Jahrhunderte hinweg bekämpft haben, ist die Freizügigkeit eine der großen Errungenschaften unserer Europäischen Union. Als ich das erste Mal eine Grenze überquert habe, ohne meinen Pass zeigen zu müssen, hat mich das sehr berührt.

Viele kennen ein Europa mit Grenzen gar nicht mehr. Werden diese Errungenschaften der EU zu wenig wertgeschätzt? 

Olaf Scholz: Man sollte scheinbare Selbstverständlichkeiten nicht für selbstverständlich erachten. Die Briten merken ja gerade, was es bedeutet, wenn Dinge wieder zurückgedreht werden und sie nicht mehr ohne Weiteres in die Staaten der EU reisen können. Dasselbe gilt leider auch umgekehrt. Insofern ist keine unserer Errungenschaften unumkehrbar. Nichts hat eine Ewigkeitsgarantie. Das sollten wir uns öfter bewusst machen.

Katarina Barley: Dem kann ich mich anschließen. Sehr bewusst ist das vielen in der Corona-Pandemie geworden als Tausende an den Grenzen standen, nur, weil sie zur Arbeit wollten. Im Kampf gegen das Virus hatten ja einige Staaten ihre Grenzen zeitweise geschlossen. 

Olaf Scholz

Als ich das erste Mal eine Grenze überquert habe, ohne meinen Pass zeigen zu müssen, hat mich das sehr berührt.

Knapp die Hälfte – 47 Prozent – der Deutschen hat ein positives Bild von der EU, sagen die jüngsten Zahlen des Eurobarometers. Überrascht Sie dieser Wert? 

Olaf Scholz: Mich nicht. Wir sollten uns nicht von den Extremisten die Stimmung diktieren lassen. Ich vertraue da lieber auf die Bürgerinnen und Bürger, denn die meisten haben einen ganz gesunden Menschenverstand und ein gutes Urteilsvermögen. Es ist klar, dass wir alle sehr von Europa profitieren und dass wir ohne die EU viel schlechter leben würden.

Katarina Barley: Auch mich überrascht dieser Zustimmungswert nicht. Man muss noch dazu sagen, dass 47 Prozent Zustimmung nicht bedeuten, dass 53 Prozent die EU ablehnen. Viele haben eher ein neutrales Bild oder schlicht keine Meinung dazu. Insofern finde ich 47 Prozent Zustimmung zur EU positiv, auch wenn ich finde, dass da noch Luft nach oben ist. 

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)

Die Europawahl im Juni findet statt, während mitten in Europa ein Krieg tobt. Wie verändert der Krieg in der Ukraine die Europäische Union? 

Katarina Barley: Der Krieg in der Ukraine hat die Europäische Union stärker zusammengeschweißt. Putins Kalkül war ja, dass Europa sich auseinanderdividieren lässt, doch genau das Gegenteil ist passiert: Innerhalb von drei Tagen gab es weitreichende Sanktionen, humanitäre Hilfe und Waffenlieferungen an die Ukraine – letzteres zum ersten Mal in der Geschichte der EU. Das war etwas, mit dem Putin nicht gerechnet hatte. Mich beeindruckt auch, dass die Solidarität über die Zeit nicht abgenommen hat, sondern bis heute sehr groß ist. Olaf Scholz hat daran übrigens einen großen Anteil.

Olaf Scholz: Russlands Krieg gegen die Ukraine ist eine Zeitenwende. Ich habe das damals bewusst so gesagt, weil Wladimir Putin mit seinem Krieg eine Verständigung aufkündigt, die über viele Jahrzehnte Frieden und Sicherheit in Europa garantiert hat. Dazu gehört die Übereinkunft, dass Grenzen nicht mit Gewalt verschoben werden. Die Konsequenz für Deutschland daraus ist, dass wir die Ukraine unterstützen, damit sie sich verteidigen kann. Gleichzeitig stärken wir unsere eigene Verteidigungsfähigkeit, weil wir nicht darauf vertrauen können, dass jemand, der einmal Grenzen mit Gewalt verschiebt, das kein zweites Mal macht.

Was bedeutet das für die Zukunft der Europäischen Union?

Olaf Scholz: Der Krieg in der Ukraine zeigt sehr deutlich, wie wichtig unsere Europäische Union ist. Sie hat zusammengefunden über die Idee der Freiheit und der Demokratie. Wenn man nach Portugal blickt, nach Spanien oder Griechenland, wo es lange Diktaturen gab, dann wird schnell deutlich, dass mit unserem heutigen Europa eine ganz andere Zukunft und Perspektive möglich geworden sind. Ähnliches gilt für die Staaten Zentraleuropas, deren Freiheit lange hinter dem Eisernen Vorhang eingesperrt war, und die jetzt ihre 20-jährige Zugehörigkeit zur EU feiern. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir denen, die zu uns stoßen wollen, eine Perspektive bieten. Dazu gehören die Ukraine wie auch die Staaten des westlichen Balkans. 

SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl Katarina Barley

Auf einem Plakat für die Europawahl sind Sie gemeinsam zu sehen mit der Forderung „Frieden sichern“. Wie passt das zusammen mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine? 

Katarina Barley: Die Unterstützung der Ukraine, auch mit Waffen, ist eine Bedingung dafür, dass wieder Frieden herrschen kann. Putin hat diesen Krieg völkerrechtswidrig vom Zaun gebrochen mit einer atemberaubenden Brutalität. Er führt nicht nur Krieg gegen die ukrainische Armee, sondern er will die Ukraine in ihrer ganzen nationalen Identität auslöschen. Manche meinen ja, es gäbe Frieden, wenn die Ukrainer aufhören würden zu kämpfen. Das sehe ich nicht. Frieden ist eben mehr als die Abwesenheit von Krieg. 

In meiner Funktion als Präsidentin des Arbeitersamariterbundes habe ich unsere Schwesterorganisation in der Ukraine besucht. Eine alte Frau hat mir dort gesagt, der Krieg sei schrecklich, aber wenn die Menschen in der Ukraine ihn aushalten könnten, um Putin die Stirn zu bieten, dann könnten wir das in Deutschland auch. Deshalb ist für mich ganz klar, dass die Ukraine entscheiden muss, wann und wie dieser Krieg endet. Deutschland wird sie bis dahin in jedem Fall unterstützen.

Olaf Scholz: In seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ hat der große deutsche Philosoph Immanuel Kant, der in diesem Jahr 300 Jahre alt geworden wäre, ganz klar gemacht, dass das Recht, sich zu verteidigen, zu den Rechten der Staaten dazugehört. Die Ukraine nimmt dieses Recht wahr und wir unterstützen sie dabei. Gleichzeitig tun wir alles, um Möglichkeiten für Gespräche über eine Lösung des Krieges zu schaffen. Einiges hat bereits stattgefunden und im Juni wird es ein weiteres Treffen in Davos geben. Ermutigend ist, dass immer auch arabische, afrikanische und südamerikanische Staaten in diesem Prozess dabei sind. Auch wenn all diese Pflanzen noch klein sind, lohnt es sich, sie zu gießen.

Katarina 

Barley
 

Der Krieg in der Ukraine hat die Europäische Union stärker zusammengeschweißt.

Viele bezeichnen die bevorstehende Europawahl als „Richtungswahl“. EVP-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen hat sich offen für eine Zusammenarbeit mit den extrem rechten Kräften im Europaparlament wie den Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni oder der polnischen PiS-Partei gezeigt. Werden sie so endgültig hoffähig gemacht? 

Katarina Barley: Die Normalisierung findet ja längst statt. Ursula von der Leyen hat die Zusammenarbeit mit rechten Parteien nicht ausgeschlossen. Der Vorsitzende der EVP Manfred Weber macht überhaupt kein Hehl daraus, dass er versuchen wird, nach der Wahl möglichst viele der extremen Rechten einzubinden oder sogar in seine eigene Fraktion rüberzuziehen. Vor allem aber findet die Normalisierung in den EU-Mitgliedsstaaten statt, wo die Konservativen und mittlerweile leider auch die Liberalen die Rechtsextremen an Regierungen beteiligen oder sich zumindest von ihnen tolerieren lassen. Wenn diese Tür geöffnet wird, profitieren die Rechtsextremen am meisten. Es ist deshalb wichtig, dass wir Sozialdemokraten in der „Berliner Erklärung“ jegliche Zusammenarbeit mit der extremen Rechten nach der Europawahl ausgeschlossen haben.

Olaf Scholz: Im Europäischen Parlament darf es keine Koalition mit rechtsextremen Parteien geben. Das ist unsere klare Linie und ich bin sehr froh, dass die sozialdemokratischen Parteien hier sehr eindeutig sind. Mit einem starken Votum für die SPD und ihre Schwesterparteien kann deshalb jede und jeder einen Beitrag dazu leisten, dass Europa die richtige Richtung beibehält.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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