International

Neuwahlen in Frankreich: Aufbruch ins Chaos

Mit der überraschenden Auflösung der Nationalversammlung und extrem kurzfristig angesetzten Neuwahlen hat Präsident Emmanuel Macron ein politisches Erdbeben in Frankreich ausgelöst. Nervöse Hektik und Chaos im linken wie im bürgerlichen rechten Lager sind die Folge.

von Kay Walter · 17. Juni 2024
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron

Spieler oder durchgedreht? Die Einschätzungen über Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schwanken.

Ganz Frankreich spekuliert, was Macron zu dieser Handlung getrieben haben mag. Denn helfen werden ihm die Neuwahlen nicht. Ganz im Gegenteil. 

Schon im jetzt aufgelösten Parlament hatten die Parteien der sogenannten „Präsidentenmehrheit“ keine absolute Mehrheit. In der nächsten Nationalversammlung werden sie vermutlich nicht einmal mehr über die relative Mehrheit verfügen. Die Einschätzungen über den Präsidenten schwanken daher zwischen Spieler und Hasardeur auf der einen und „Russisch Roulette“ und vollkommen durchgedreht auf der anderen Seite.

Bei allem Vertrauen in das französische Volk, mit dem Macron seinen Schritt begründet hat: Er kann nicht ernsthaft glauben, dass die Parlamentsabstimmung drei Wochen nach der Europawahl ein wirklich anderes, für ihn fundamental besseres Ergebnis ergibt. 

Macron als Steigbügelhalter der Rechten

Vielmehr wird der rechtsradikale Rassemblement National (RN) am 30. Juni laut Umfragen ein gutes Drittel der Stimmen holen. Und nach den Stichwahlen eine Woche darauf könnte Macron gar gezwungen sein, Jordan Bardella, den Vorsitzenden des RN von Marine Le Pens Gnaden, zum Premierminister ernennen zu müssen. 2017 angetreten, um den Durchmarsch der Rechten zu verhindern, könnte Macron so zu ihrem Steigbügelhalter werden. 

In Wahrheit sind die Neuwahlen sein Versuch, alle anderen politischen Kräfte auf Linie zu zwingen: Die Linke glaubte er tief gespalten. Der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, dessen Europawahlkampf ausschließlich aus antiisraelischen Ausfällen und zudem antisemitischen Beleidigungen des Spitzenkandidaten der Sozialisten Raphaël Glucksmann bestand, würde jede Gemeinsamkeit unmöglich machen. 

Die bürgerlich-konservativen Republikaner betrachtet Macron als klinisch tot, und so wollte er sich und die seine Politik tragenden Parteien erneut als das einzig reale Gegengewicht gegen den Rechtsextremismus präsentieren, nach dem Motto: „Ich oder das Chaos“. In einer Stichwahl, wenn es wirklich hart auf hart kommt, so spekulierte der Präsident offenbar, stimmen Französinnen und Franzosen nicht für die Ultra-Rechte.

Ein Geschenk für die Rechtsradikalen

Außer in der Einschätzung der Republikaner dürfte Macron sich in fast allen Punkten getäuscht haben. Hauptziel der nationalistischen Rechtsradikalen waren immer die Neuwahlen, die ihnen der Präsident nun geschenkt hat. Kaum waren die angekündigt, riefen sie zur nationalen Sammlung. Denn ihr Potenzial ist noch weit größer als „nur“ die 31,4 Prozent der Stimmen, die der RN bei der Europawahl erzielt hat. Das Bündnis „La France Fière“, zu Deutsch „Stolzes Frankreich“, unter Eric Zeymour und Marine Le Pens Nichte Marion Maréchal steht noch weiter rechts als der RN und vertritt weitere 5,5 Prozent. 

Hinzu kommt der Vorstoß von Eric Ciotti, Chef der bürgerlich-konservativen Republikaner, der Partei, die sich als Erbe der Politik Charles de Gaulles versteht. Er rief zu einer gemeinsamen Liste mit dem RN und anderen rechten Bündnissen auf. 

Darauf reagierte selbst der wahrlich nicht als liberal bekannte Ex-Präsident Nicolas Sarkozy entsetzt. Ciotti wurde umgehend durch Parteigranden seines Amtes enthoben, nur um einen Tag später von einem ordentlichen Gericht wieder eingesetzt zu werden. Damit hat sich die einst so wichtige Partei komplett zerlegt. Aber ihre Wähler*innen gibt es natürlich weiter. Und eine erkleckliche Anzahl wird Ciotti ins rechtsradikale Lager folgen.

Wo die rechtsradikale Sammlungsbewegung erdacht wurde

Dafür sorgt schon einer der reichsten Männer Frankreichs, der Milliardär und Medienmogul Vincent Bolloré. Ihm gehören unter anderem die Sender CNews und Europa1, die Zeitungen Journal du Dimanche, Valeurs Actuelles und Paris Match. Das Medienkonglomerat erzeugt im engen Zusammenspiel eine Art Echokammer für die rechtsradikale Sammlungsbewegung. Hier wurde sie vorgedacht und wird weiter permanent eingefordert. 

Unterstützung leistet auch der ehemals liberale „Figaro“, heute im Besitz des Rüstungsmagnaten Dassault. Inzwischen ist die gesamte französische Presse, alle Tages- und Wochenzeitungen, unter der Kuratel der fünf reichsten Familien des Landes. 

Vor diesem Hintergrund haben sich wider alle Erwartungen die linken Kräfte kurzfristig zusammenraufen können. Nouveau Front populaire (NFP), „neue Volksfront“, heißt die gemeinsame Liste von Sozialisten, Kommunisten, Ökologen und von Jean-Luc Mélenchons La France insoumise (LFI). Der Name ist eine bewusste Anspielung auf die Regierungskoalition von 1936 unter dem Sozialisten Léon Blum.

Die stärkste Option gegen Rechtsaußen

Ein kluger, einleuchtender und absolut richtiger Gedanke, und womöglich die stärkste Option gegen Rechtsaußen, denn gemeinsam hat man ein Potenzial von gut 30 Prozent und damit die reale Chance, zumindest zweitstärkste Kraft zu werden. Allein, schon der Gründung der Neuen Volksfront sind leider gewaltige Makel anzulasten, namentlich Mélenchon.

Soll niemand erwarten, dass der Egomane Mélenchon seinen Antisemitismus jemals zügeln wird oder gar seinen unbedingten Führungsanspruch zurückschrauben, „nur“ weil die Parti Socialiste unter Raphaël Glucksmann deutlich stärker ist als die LFI. Allein die Anzahl der LFI-Kandidat*innen auf den Listen ist durch nichts zu rechtfertigen. 

Schuld daran trägt übrigens auch Macron, weil er die Wahl so kurzfristig anberaumt hatte, dass die Zeit für demokratische Listenaufstellungen gar nicht reichte. Hinzu kommt, dass Mélenchon nur treue Gefolgsleute nominiert hat und sich nicht nur die Mehrzahl der Wahlkreise, sondern auch noch die erfolgversprechendsten gesichert hat. Kritiker*innen werfen ihm eine Säuberung stalinistischer Prägung vor.

Mélenchon ist eine Bürde für das linke Lager

Dazu muss man wissen, dass Le Pens Partei als weniger radikal und weniger gewalttätig wahrgenommen wird als Mélenchons LFI. Schlimmer noch: 36 Prozent der Wähler*innen halten die LFI für „gefährlicher“ als der RN. Und ein Drittel befindet den RN als „glaubwürdiger“ und „kompetenter“ als die LFI. Ein gutes Wahlergebnis für die linke Liste muss also trotz, ja gegen Mélenchon erreicht werden.

Dennoch wird ein gutes Abschneiden der Neuen Volksfront de facto vor allem Mélenchon nützen. Seine Kandidat*innen werden zwar nicht den Wahlkampf bestimmen, aber voraussichtlich die ins Parlament gewählte Fraktion. 

Bleibt die Parteienfamilie hinter dem Präsidenten. Die weniger bekannten Politiker*innen unter ihnen werden Probleme bekommen, überhaupt die Stichwahl zu erreichen, geschweige denn in die Assemblée Nationale (Nationalversammlung) einzuziehen. Macron könnte also zur Kohabitation gezwungen werden, das heißt, einen Premier zu berufen, der eine gegenteilige Politik verfolgt. 

Ein rechtsradikaler Premier für Frankreich?

Nach Lage der Dinge wäre das Jordan Bardella, 28 Jahre alt, ohne jede Ausbildung und Führungserfahrung, rechtsradikal. Macron behielte zwar die Oberhoheit über Militär und Außenpolitik, alles andere aber hätte Bardella zu entscheiden. Und Macron ginge tatsächlich sehr gewichtig in die Geschichtsbücher ein – nur sehr anders, als er sich das vorgestellt hatte.

Autor*in
Avatar
Kay Walter

ist freiberuflicher Journalist in Paris.

Weitere interessante Rubriken entdecken

1 Kommentar

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Mo., 17.06.2024 - 17:55

Permalink

Macron, der Wunschpräsident viele SPDler, macht schlapp - schlechte Politik rächt sich nicht nur in der BRD. Aber den Hauptfeind haben wir ja ausgemacht; das ist der Antisemit Melenchon; worauf diese Vorwürfe sich gründen wir in dem Artikel leider nicht dargelegt. Ja, der Melenchon der ist sowas wie Jeremy Corbin in französisch - brandgefährlich. Wer selbst mit seiner Politik bei den Wahlen nicht gut ankommt, sollte sich mit Vorwürfen dieser Art etwas zurückhalten, denn man sollte auch nicht vergessen, daß Melenchon gebürtiger Tunesier ist - ein Schwarzfuß, wie der Franzose sagt.