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Nach EM-Spiel: So reagiert die Türkei auf die Wolfsgruß–Krise

Der „Wolfsgruß“ des türkischen Nationalspielers Melih Demiral sorgt auch in der Türkei für Diskussion. Während ein Großteil der Fans und Politiker*innen Demiral verteidigt, wird  insbesondere in den sozialen Medien seine Geste verurteilt. Für Präsident Erdogan kommt die Debatte zu einem kritischen Zeitpunkt.

von Kristina Karasu · 5. Juli 2024
Das Symbol des grauen Wolfs ist im türkischen Fußball allgegenwärtig – auf und neben dem Spielfeld.

Das Symbol des grauen Wolfs ist im türkischen Fußball allgegenwärtig – auf und neben dem Spielfeld.

Bis jetzt ließ sich der türkische Präsident Erdogan bei Fußball-Europameisterschaft nicht blicken. Doch nach dem Eklat um den „Wolfsgruß“ des türkischen Nationalspielers Melih Demiral im Achtelfinal-Spiel gegen Österreich am vergangenen Dienstag änderte er spontan seine Reiseroute, um am Samstag in Berlin das Viertelfinale Türkei gegen die Niederlande zu verfolgen. 

Als hätten sie nur auf ein Signal gewartet, begannen sich Kolumnist*innen türkischer Massenmedien daraufhin reihenweise zu dem Vorfall zu äußern. Die nationalistische Zeitung „Akşam“ wettert, die internationale Kritik am Handzeichen Demirals sei Teil eines Plans des Westens, die türkische Nation zu schwächen. Das Massenblatt „Hürriyet“ meint gar, das Wolfszeichen habe jetzt erst recht an Beliebtheit gewonnen. Die sonst so gespaltene Nation vereine sich nun patriotisch hinter dem Symbol, schwärmt Chefredakteur Ahmet Hakan. Bekannte Historiker erklären eifrig, der Wolf sei in der Geschichte des Türkentums von großer Bedeutung, symbolisiere die Kampfesbereitschaft der Nation.

Nationalistische Politik ist in der Türkei auf dem Vormarsch

Das mag richtig sein, doch bisher wurde das Wolf-Handzeichen fast nur von der ultrarechten Gruppierung der „Grauen Wölfe“ verwendet, sowie ihrem politischer Arm, der Partei MHP. Sie ist seit Jahrzehnten für eine radikale und rassistische Politik bekannt, unterhält gute Beziehungen zur Mafia. Seit 2017 ist die MHP in einem Wahlbündnis mit Erdogans AKP. Seither ist nationalistische Politik in der Türkei auf dem Vormarsch, und selbst Oppositionspolitiker wie Ex-CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu machte gelegentlich das Wolfszeichen, um im ultranationalistischen Lager auf Stimmenfang zu gehen. 

Doch für viele Menschen in der Türkei ist das Symbol noch immer verhasst, insbesondere bei den zahlreichen Minderheiten im Land. Nicht wenige zeigten sich in den sozialen Medien entsetzt über Demirals Geste. Ob Zufall oder nicht, Demiral machte sein Handzeichen am Jahrestag des Sivas-Massakers vom 2. Juli 1993, bei dem ein wütender Mob radikaler Islamist*innen in der mittelanatolischen Stadt Sivas ein Hotel in Brand setzten. Mehr als 30 Künstler*innen und Intellektuelle überwiegend der alevitischen Minderheit, die dort für ein Kulturfestival zusammengekommen waren, starben in den Flammen. Zehntausende Radikale vor dem Hotel bejubelten das.

Zweifel an den Absichten Demirals

Nationalspieler Melih Demiral bestreitet jede politische Absicht, erklärt er habe nur den Triumph und seine Nation feiern wollen. Viele in der Türkei nehmen ihm das nicht ab. „So naiv kann er nicht sein“, erklärt etwa Fußballexperte und Autor Bora Isyar gegenüber dem „vorwärts“. „Für viele Menschen steht dieses Symbol für Mord, Hass, Ausgrenzung und Unterdrückung“, so Isyar. Überrascht zeigt er sich trotzdem nicht über die Geste des Spielers:  „Wenn man Melih Demiral du den türkischen Fußball ein bisschen kennt, weiß man, dass so etwas passieren kann.“

Melih Demiral ist für seine äußerst aggressive Spielweise bekannt. Als einige türkische Nationalspieler 2019 bei einem Spiel gegen Frankreich den Soldatengruß zeigten, attackierte Demiral Spieler, die nicht mitmachten. Als einschlägig politisch ist er allerdings nicht bekannt, er gilt als wenig gebildet.

Die CHP sucht einen Mittelweg

Kriegsrhetorik gehört im türkischen Fußball zum Alltag. TV-Kommentatoren sprechen gerne von „Feldzügen“ und „Eroberungen“, wenn es um Spiele geht. „Ein Großteil der Spieler und Fans ist sehr nationalistisch gesinnt“, erklärt Experte Isyar. Konservative und rechte Politiker*innen unterstützen nun erwartungsgemäß Demiral, das türkische Außenministerium verurteilte die Reaktionen der UEFA, die Demiral für zwei Spiele sperrte, aber insbesondere der deutschen Politik als „fremdenfeindlich“.

Derweil versucht die größte Oppositionspartei CHP, Schwesterpartei der SPD, einen Mittelweg zu finden. CHP-Chef Özel erklärte, er plädiere in diesem Fall auf Meinungsfreiheit. Er gab aber auch zu bedenken, dass türkische Nationalist*innen in der Vergangenheit Spieler gelyncht hätten, die auf dem Spielfeld das Siegeszeichen der Linken gemacht hätten. Mit ihrem Verständnis von Meinungsfreiheit, so Özels unterschwellige Botschaft, sei es also nicht weit her.

Erdogan ist zunehmend in Bedrängnis...

Für Präsident Erdogan kommt die Debatte zu einem kritischen Zeitpunkt. Innenpolitisch ist er angeschlagen, bei den Kommunalwahlen im Frühjahr gewann die CHP, die Inflation hält das Land weiter im Würgegriff. Am vergangenen Wochenende kam es erst im mittelanatolischen Kayseri und dann in anderen Städten zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen syrische Geflüchtete.

Gleichzeitig kriselt Erdogans Bündnis mit der ultranationalistischen MHP. Jahrelang hatte die MHP Erdogan unterstützt, im Gegenzug den türkischen Sicherheits- und Justizapparat mit ihren eigenen Leuten besetzt. Das bringt Erdogan immer wieder in Bedrängnis.

...könnte aber von der Debatte profitieren

Derzeit findet der Gerichtsprozess im Fall des auf offener Straße ermordeten einstigen Chef der Grauen Wölfe, Sinan Ates, statt. Der Mord reicht offenbar bis in die höchsten Ränge der MHP, Parteichef Devlet Bahceli bekundete nie sein Beileid. Die türkische Öffentlichkeit verfolgt gespannt, was der Prozess über die Machenschaften der Grauen Wölfe ebenso wie der MHP ans Tageslicht befördert. 

Gut möglich, dass Erdogan am Wochenende in Berlin gar keine öffentlichen Worte verliert. Seine pure Anwesenheit soll ein Bild von nationaler Geschlossenheit und Stolz vermitteln. Die deutsche Öffentlichkeit würde gut daran tun, das Thema nicht ewig aufzubauschen – sonst erweist sie ihm einem Dienst.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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Gespeichert von Helmut Gelhardt (nicht überprüft) am So., 07.07.2024 - 12:07

Permalink

Das Verbot des Wolfsgrußes in Deutschland ist lange überfällig. Deutschland übt eine völlig falsche und fatale Toleranz mit türkischen Radikal-Nationalisten bzw. Faschisten. Mutterlandsliebe/Vaterlandsliebe ist o.k.
Faschismus, Rassismus, Chauvinismus NIE und NIRGENDS. Also selbstverständlich auch nicht bei Deutschen und Türken.

Gespeichert von Thomas Schneider (nicht überprüft) am So., 07.07.2024 - 14:36

Permalink

Wenn die Türken einen Rechtsextremen Gruß für in Ordnung halten, sollte man beim nächsten Aufeinandertreffen Türkei Deutschland mal Jan Böhmermann Postings zeigen

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