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Lars Klingbeil in der Türkei: Gemeinsam gegen die Feinde der Demokratie

In Ankara traf SPD-Chef Lars Klingbeil den Vorsitzenden der türkischen Schwesterpartei CHP Özgür Özel. Er setzt auf ein stärkeres Netzwerk sozialdemokratischer Parteien weltweit – auch um Populisten und Antidemokraten etwas entgegenzusetzen.

von Kristina Karasu · 8. Oktober 2024
Lars Klingbeil und

SPD-Chef Lars Klingbeil traf den Vorsitzenden der türkischen Schwesterpartei CHP Özgür Özel in Ankara

Der Himmel reißt plötzlich auf, als Lars Klingbeil und Özgür Özel, Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), am Montagnachmittag den Vorplatz des Atatürk-Mausoleums betreten. Nach heftigem Regen schob sich plötzlich die Sonne durch die Wolken, wie ein Zeichen der Hoffnung am ersten Tag von Klingbeils dreitägigem Türkeibesuch. 

Der Besuch des Grabes des säkularen Staatsgründers ist ein diplomatisches Standartprogramm in Ankara. Atatürk erfreut sich in der Türkei derzeit großer Beliebtheit: während Erdogan mit einer Bildungsreform die Religion in den Schulen weiter verankert, mit einem Beitritt zu BRICS liebäugelt und islamistische Sekten hofiert, sehnen sich viele im Land nach der Vision Atatürks einer modernen, nach Westen ausgerichteten Türkei, legen Wert auf dessen strikte Trennung von Religion und Staat. 

CHP als stärkste Partei bei Kommunalwahlen

Die Stimmung zwischen Klingbeil und Özel ist gelöst und herzlich, man kennt sich. Im letzten Jahr hatten sich die beiden bereits zweimal getroffen: zuerst bei Klingbeils Türkei-Besuch im Frühjahr 2023, damals war Özel noch Fraktionsvorsitzender der CHP. Beim zweiten Mal im Dezember 2023 sprach Özel auf dem SPD-Parteitag in Berlin, kurz zuvor war er zum Parteichef der republikanischen Volkspartei CHP gewählt worden. Nun ist er auch noch Wahlsieger: bei den türkeiweiten Kommunalwahlen im Frühjahr 2024 ging die CHP als stärkste Partei hervor, das erste Mal seit Erdogans Amtsantritt. Gute Beziehungen zur CHP haben für deutsche Politiker*innen damit enorm an Bedeutung gewonnen.

Die CHP ist schon lange Schwesterpartei der SPD, doch jahrelang waren die Beziehungen mau. Das zu ändern, war schon letztes Jahr Klingbeils Ziel. Beim jetzigen Besuch konnte er konkrete Fortschritte vorweisen: am Montagabend unterschrieben er und Özel ein Memorandum zur intensiveren Zusammenarbeit zwischen SPD und CHP. „Das hätten wir schon viel früher tun sollen“, kommentierte Özel. 

Zusammenarbeit verstärken

„Das vertieft nicht nur die Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Parteien, sondern auch zwischen unseren beiden Ländern“, so der CHP-Chef. In dem Memorandum verständigen sich beiden Parteien auf einen Parteidialog in den Bereichen Demokratie, Außenpolitik, Frieden, EU-Beziehungen, Umwelt- und Klimapolitik. Darüber hinaus strebt man jährliche Treffen und „institutionelle Kooperationsmechanismen“ an, damit  es nicht nur bei schönen Worten bleibt.

Klingbeil stellte das Memorandum in einen globalen Zusammenhang: „Mitte-Links-Parteien weltweit müssen sich besser vernetzen, um den Populisten, Spaltern und Antidemokraten etwas entgegenzusetzen“, betonte er. Denn die seien global bereits sehr gut vernetzt, tauschen sich etwa darüber aus, wie sie in den sozialen Medien vorgehen und Gesellschaften destabilisieren können. 

„Wir als progressive Parteien müssen ihnen einen Schritt voraus sein“, erklärte Klingbeil. Das Memorandum mit der CHP reiht sich ein in mehrere neue Kooperationsvereinbarungen Klingbeils mit sozialdemokratischen Parteien weltweit, etwa zwischen der SPD und der Mongolische Volkspartei MVP sowie mit der brasilianischen Arbeiterpartei PT. In diesem September initiierte er einen Parteidialog mit der Kommunistischen Partei Chinas, für Oktober ist eine Neuaufstellung der internationalen „Progressive Alliance“ geplant. 

Weltweite Vernetzung sozialdemokratischer Parteien geplant

Nicht alle diese Parteien haben das gleiche Verständnis von Demokratie und Transparenz wie die SPD, nicht alle sind einfach Partner. Die CHP etwa war jahrelang eine eher nationalistisch geprägter Partei, galt in der Türkei als abgehobene und verkrustete Partei der säkularen Eliten. Erst in den letzten Jahren hat sie ihr sozialdemokratisches Profil wiederentdeckt und ist Schritte auf religiöse und kurdische Wähler*innen zugegangen. 

Die Wahl Özgür Özels ging einher mit Hoffnung auf innerparteiische Reformen; die nächsten Jahre werden zeigen, ob er die einlösen kann. Schon jetzt kann Özel zwei sehr aussichtsreiche Kandidaten für die nächsten Präsidentschaftswahlen vorweisen: Masur Yavas und Ekrem Imamoglu, die Bürgermeister von Ankara und Istanbul. Imamoglu trifft Klingbeil am Mittwoch in Istanbul, zu ihm pflegt er ein freundschaftliches Verhältnis. 

Am Dienstag traf Klingbeil außerdem die Parteispitze der prokurdischen DEM (zuvor HDP), ebenfalls Schwesterpartei der SPD. Spontan lud ihn auch der türkische Außenminister Hakan Fidan ein – Gäste aus Deutschland sind derzeit in der Türkei gerne gesehen. 

Türk*innen auf der Flucht

Ohnehin sind Türkeireisen in der deutschen Politik gerade stark in Mode. In dieser Woche ist der EU-Ausschuss des Bundestages in Istanbul zu Gast. Friedrich Merz hatte schon vor Wochen seinen Besuch angekündigt, Kanzler Scholz traf sich kürzlich mit Erdogan in New York. Dabei steht meist das heikle Thema Flüchtlinge auf dem Programm. Das hat im letzten Jahr eine neue Dimension gewonnen: Türk*innen gehörten im letzten Jahr zu den größten Asylbewerbergruppen in Deutschland. 

Während jahrelang vor allem politisch Verfolgte aus der Türkei nach Deutschland kamen, hat die jüngste Fluchtwelle vor allem wirtschaftlichen Gründe. Hyperinflation, Erdbeben und mangelnde Perspektiven nach Erdogans erneutem Wahlsieg 2023 haben viele in die Flucht getrieben, die meisten von ihnen sind Kurd*innen. 

Doch nur die wenigsten haben Chancen auf Asyl, mehr als 13.500 Türk*innen in Deutschland sind derzeit ausreisepflichtig. Laut Berichten der Frankfurter Allgemneinen Zeitung sollen nun wöchentlich bis zu 500 Menschen in die Türkei abgeschoben werden, im Gegenzug kann die Türkei wohl auf Visaerleichterungen hoffen. 

Kein neuer EU-Türkei-Flüchtlingsdeal geplant

Zu diesem Thema befragt, antworten Özel und Klingbeil auf ihrer Pressekonferenz nur verhalten. Man müsse die Details dieser Vereinbarung kennen, so Özel. Wenn die Abschiebungen rechtens seien und dafür die Türkei endlich Visaerleichterungen erhalte, sei das begrüßenswert. Einen neuen EU-Türkei-Flüchtlingsdeal, wie ihn einst die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan abgeschlossen hatten, würde seine Partei aber „auf keinen Fall“ befürworten, betonte Özel. 

Wichtiger sei es, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Deutsche Politiker*innen, die sich von einem Türkeibesuch einfach Lösungen für die europäische Flüchtlingsfrage erhoffen, dürften die zumindest bei der CHP kaum finden. Für eine langfristige Zusammenarbeit mit der Hoffnung auf eine demokratischere Türkei hingegen stehen bei der CHP die Türen offen. 

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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