Isabel Allende über Chile: „Es ging immer um Demokratie“
Felix Zahn/photothek.de
Welche Gefühle beherrschen Sie anlässlich des 50. Jahrestages des Militärputsches in Chile?
Da sind sehr viele Emotionen, die stark an diesen Staatstreich erinnern. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass dieser Putsch ein Verbrechen war, das nie hätte geschehen dürfen. Die Erinnerungen daran rufen natürlich immer auch sehr viel Schmerz hervor, vor allem, wenn ich an die menschlichen Verluste denke: Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Genossinnen und Genossen, die damals verfolgt und gefoltert wurden oder ihr Leben verloren haben. Was mich dieser Tage am meisten verletzt ist, dass die Rechten in unserem Land sich geweigert haben, ein gemeinsames Dokument „Demokratie für immer“ zu unterzeichnen, das von Präsident Gabriel Boric vorgelegt und von allen Präsidentinnen und Präsidenten der wieder erlangten Demokratie am 11. September feierlich unterschrieben wurde. Es ging immer um Demokratie. Egal, welche politischen Schwierigkeiten es gibt, ein Militärputsch ist nie eine Lösung. Es gibt immer demokratische Lösungen.
Sie haben die extrem Rechten schon angesprochen. Wie geht diese mit diesem Jahrestag um?
Nicht nur die die Rechtsextremen, sondern die klassische Rechte in Chile hat sich geweigert, das Dokument „Demokratie für immer“ zu unterschreiben. Sie haben ihre eigene Erklärung formuliert und nicht den Präsidenten unterstützt. In dieser Erklärung kommt der Begriff „Staatsstreich“ nicht vor. Auch der Begriff „Diktatur“ und der Name „Pinochet“ nicht. Auch nicht der Name meines Vaters, Salvador Allende, der damals Präsident war.
Es gab aber auch eine Erklärung der Rechtsextremen, in der sie am Ende versucht haben, den Staatsstreich zu rechtfertigen. Die verstehen nicht oder wollen nicht verstehen, dass es historische Fakten sind, die man nicht negieren kann. Es gab einen Staatsstreich. Es gab die Diktatur, und es gab Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das sind eindeutigen Fakten, selbst wenn man über die politische Orientierung der damaligen Politik auch streiten kann. Es gibt einen Unterschied, ob man eine offizielle Wahrheit verkünden will oder ob man über objektive historische Fakten spricht.
Die Militärdiktatur unter Pinochet hatte für Chile noch lange massive wirtschaftliche Folgen, weil sie eine radikale neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgte...
Die Armutsrate in Chile lag nach 1988 bei 40 Prozent und extreme Armut zwischen 16 und 18 Prozent. Um das wieder zurückzudrängen, brauchten wir mehr als 20 Jahre. Mit den ersten ersten drei demokratischen Regierungen nach der Militärdiktatur konnten wir die Armut reduzieren und das Pro-Kopf-Einkommen verdreifachen. Aber wir haben immer noch viele Herausforderungen vor uns. Das Land ist sozial extrem gespalten, und es hat sich ein sehr auf das eigene Ich bezogenes Denken in der Gesellschaft festgesetzt. Die Erwartung ist, dass die Politik sofort alle Dinge regelt. Der Gedanke der Solidarität, der Gemeinschaft und die Notwendigkeit, sich gemeinsam anzustrengen, ist verloren gegangen.
Wo zum Beispiel?
Ein Teil der neoliberalen Pinochet-Politik war die Privatisierung der Rentenkassen. Das hat zur Folge, dass keine staatliche Rente ausgezahlt wird und die Renten sehr niedrig sind. Auch notwendige minimale öffentliche Dienste und Dienstleistungen sind nicht garantiert. Das alles hängt in Chile sehr vom eigenen Portemonnaie ab. Wenn ich Geld habe, kann ich meine Kinder auf eine Privatschule schicken oder mich in einer private Krankenversicherung versichern. Aber es gibt keine wirkliche soziale Sicherheit für alle durch den Staat. Es gibt keinen demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaat. Auch das ist immer noch das Erbe der Pinochet-Diktatur. Was sich auch festgesetzt hat, ist eine verächtliche Haltung gegenüber den demokratischen Institutionen.
Wie bewerten Sie die aktuelle politische Lage in Chile?
Wir haben uns natürlich alle sehr darüber gefreut, dass mit Gabriel Boric wieder ein neuer junger Präsident gewählt wurde, der die notwendigen Reformschritte sehr bewusst angeht. Zu den Herausforderungen in Folge der chilenischen Vergangenheit gibt es nun auch neue Herausforderungen – Klimawandel, Wassermangel sowie die Geschlechtergleichheit. Er hat eine Regierung vorgestellt, die paritätisch besetzt ist. Und seine Vision ist es, soziale Sicherheit zu schaffen – auch für die Älteren. Im Moment ist das immer noch den Familien überlassen. Die meisten Frauen oder Mütter haben keinerlei Verdienst-Einkommen.
Aber mit dem jungen Präsidenten ist auch eine junge neue Generation in die entscheidenden Positionen gekommen, die über keinerlei politische Erfahrung verfügt, keine Regierungserfahrung. Die Leute – gerade die Jungen – erwarten, dass Demokratie, fühlbare, messbare, deutliche Ergebnisse bringt. Ansonsten werden sie sich von der Demokratie abwenden. Die Menschen, insbesondere die junge Generation sind ungeduldig, sie erwarten schnelle Lösungen
Auch die Migration spielt eine große Rolle, vor allem die aus Venezuela. Auch die öffentliche Sicherheit muss verbessert werden. Es gibt Schwerverbrechen, die man vorher nicht kannte, erpresserische Entführungen zum Beispiel.
Ich gehe aber davon aus, dass wir die zwei schwierigsten Jahre der vierjährigen Regierungszeit hinter uns haben. Wir werden uns wirtschaftlich erholen, und die Sicherheit im Land wird wachsen. Außerdem hat der Präsident einen Prozess für eine neue Verfassung angestoßen, der sich allerdings als sehr kompliziert herausgestellt, weil die Rechten in der neuen verfassungsgebenden Versammlung über die absolute Mehrheit verfügen.
Es ist schön zu hören, dass Sie doch optimistisch in die Zukunft blicken…
Der größte Fehler, den Politiker und Politikerinnen machen können, ist, die Augen vor der Realität zu verschließen. Gestern habe ich mich lange mit dem SPD-Vorsitzenden unterhalten. Dabei wurde klar: Vieles zwischen unseren Ländern ist sehr unterschiedlich. Aber es gibt auch parallele Entwicklungen, die in beiden Ländern ähnlich sind. Von daher war die Überlegung: Wie können wir stärker kooperieren und diese Kooperation konkret machen? Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir als Linke in der Zusammenarbeit nicht nur Erklärungen abgeben, sondern dass wir uns in der Zusammenarbeit auch Zeit für die Verständigung nehmen. Denn wir können es trotz aller Unterschiede schaffen, ein gemeinsames Anliegen zu formulieren und wirklich Fortschritte zu erzielen.
Zum Beispiel in der Wirtschaft: Der Haupthandelspartner Chiles ist China neben Europa und den USA. Es ist also wichtig, dass die demokratischen Länder der Europäischen Union sich stärker in Chile engagieren. Dabei darf Chile aber nicht in den globalen Konflikt zwischen den USA und China hineingezogen werden. In Europa spielt natürlich der Krieg gegen die Ukraine eine große Rolle, weil sie näher dran sind. Aber wir in Chile hoffen, dass man aus dieser schrecklichen Auseinandersetzung wieder herausfindet. Derzeit hat man aber den Eindruck, wir steuern auf einen neuen Kalten Krieg zu.
Sie waren am Grab von Willy Brandt. Welche Bedeutung hat Willy Brandt für die chilenische Bevölkerung?
Da muss ich jetzt sehr ehrlich drauf antworten. Bis 1973 waren die Beziehungen zur damaligen DDR deutlich stärker. Aber das hat sich nach Putsch 1973 komplett geändert. Willy Brandt hat damals sehr schnell Vertraute nach Chile geschickt, die dafür gesorgt haben, dass Gefangene befreit und aus dem Land gebracht werden konnten.
Willy Brandt hat seinen Beitrag geleistet, mit der Konsequenz mit der demokratischen Opposition in unserem Land zusammen zu arbeiten, mit denjenigen, die im Exil in Ostdeutschland, Westdeutschland lebten, in Frankreich und anderen Staaten Europas. Das war ein wesentlicher Beitrag zur sozialistischen Erneuerung. Wir haben verstanden, dass die Demokratie der Raum ist und auch die Begrenzung für unser politisches Handeln.
Die sozialen Veränderungen, die mein Vater wollte, waren immer Veränderungen im Rahmen der Demokratie, des Pluralismus und der Freiheit. Mit Hilfe von Willy Brandt wurden wir, die Partido Socialista de Chile, in die Sozialistische Internationale aufgenommen worden.Willy Brandts ganzheitlicher Blick auf die Welt, Stichwort Nord-Süd-Bericht, war für uns sehr wichtig. Brandt hat dadurch einen Beitrag geleistet, mit der globalen Sicht zur Stärkung der sozialdemokratischen Bewegung beizutragen und zu aufzuzeigen, was es bedeutete, einen demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaat was auch in der Bundesrepublik nach dem Krieg gelang. Zu Beginn war die sozialistische Internationale eine sehr eurozentristische Veranstaltung. Und mit Willy Brandt entwickelte sich der Blick auch auf den Wertebereich und vor allem auch auf Lateinamerika.
Ich war bei meinem Besuch das erste Mal am Grab von Willy Brandt. Das hat mir von der Symbolik her sehr gefallen. Leider haben mein Vater und er sich nie getroffen. Aber hätten sie es getan, wären sie sich bestimmt einig gewesen, dass man soziale Veränderungen nur im Rahmen von demokratischen Institutionen und demokratischen Prozessen herstellen kann.
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ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.