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Haftbefehl gegen Netanjahu: Was die Entscheidung für Deutschland bedeutet

Der Internationale Strafgerichtshof hat nach langer Prüfung Haftbefehl gegen Israels Regierungs-Chef Benjamin Netanjahu und seinen Ex-Verteidigungsminister wegen Kriegsverbrechen in Gaza erlassen. Welche Konsequenzen hat das Urteil?

von Christian Rath · 22. November 2024
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat einen Haftbefehl gegen Netanjahu erlassen.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat einen Haftbefehl gegen Netanjahu erlassen.

Eine Vorprüfungskammer des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und den Ex-Verteidigungsminister Yoav Gallant sowie gegen den Hamas-Militärchef Mohammed Deif erlassen. Die Vertragsstaaten, inklusive Deutschland, sind nun verpflichtet, die drei Personen zu verhaften, wenn sie deren Staatsgebiet betreten.

Die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant stützen sich auf zwei Vorwürfe. Zum einen seien die israelischen Politiker für Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg verantwortlich. Vorgeworfen wird ihnen, dass Israel die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln, Wasser, Energie und Medizin behindere. Es gebe keine militärischen Gründe, warum internationale Hilfsorganisationen bei der Versorgung der palästinensischen Zivilbevölkerung beeinträchtigt werden. Trotz zahlreicher internationaler Aufforderungen, etwa des UN-Sicherheitsrats, habe Israel in Gaza nur „minimale humanitäre Hilfe" zugelassen. Das Aushungern der Zivilbevölkerung in Gaza sei ein Kriegsverbrechen.

Zum anderen werden Netanjahu und Gallant Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Die Unterernährung der Bevölkerung führe zum Tod von Menschen, einschließlich Kindern, was als Mord zu bewerten sei. Dass Ärzte wegen des Energiemangels ohne Narkose operieren und amputieren müssen, könne als unmenschlicher Akt bewertet werden. Für den Vorwurf, dass die Bevölkerung Gazas „ausgelöscht" werden soll, sahen die Richter allerdings nicht genügend Indizien.

Haftbefehl auch gegen Hamas-Befehlshaber

In einem parallelen Beschluss wurde auch ein Haftbefehl gegen Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri (genannt „Deif") erlassen. Er sei oberster militärischer Befehlshaber der Kassam-Brigaden, des militärischen Flügels der islamistischen Terrororganisation Hamas. Er wird für den Angriff der Hamas auf israelische Dörfer und Kibuzze sowie ein Musikfestival am 7. Oktober 2023 verantwortlich gemacht, bei dem mehr als 1.200 Menschen starben. Die Richter werten dies als Kriegsverbrechen und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, konket als Auslöschung, Mord, Vergewaltigung und Geiselnahme.

Ursprünglich waren drei Haftbefehle gegen Hamas-Führer beantragt worden. Ismail Haniyeh und Yahya Sinwar waren allerdings inzwischen von Israel getötet worden. Israel hatte zwar im Juli auch den Tod von Deif gemeldet. Die Richter halten dies aber nicht für gesichert genug und erließen deshalb dennoch einen Haftbefehl gegen ihn.

Israel stellt die Zuständigkeit des IStGH grundsätzlich in Frage, weil Israel dem zugrunde liegenden „Römischen Statut", nicht beigetreten ist. Dagegen hat Palästine 2016 das Statut ratifiziert. Der Gerichtshof hatte deshalb schon 2021 entschieden, dass er für Straftaten auf palästinensischem Boden oder durch Palästinenser zuständig ist.

Staaten müssen Beschuldigte festnehmen

Die aktuellen Haftbefehle waren im Mai vom IStGH-Chefankläger Karim Khan, einem Briten, beantragt worden. Khan ist noch im Amt, obwohl vorige Woche Vorwürfe gegen ihn bekannt wurden, er habe eine Mitarbeiterin sexuell belästigt. Khan wies dies zurück und erklärte, dies sei ein Komplott, um seine Arbeit zu behindern. 

Die Haftbefehle wurden von einer dreiköpfigen Vorprüfungskammer des Internationalen Strafgerichtshofs erlassen. Bisher ist nur festgestellt, dass auf Grundlage des vom Ankläger vorgelegten Materials ein ausreichender Tatverdacht gegen Netanjahu, Gallant und Deif besteht.

Über eine Verurteilung müsste dann eine fünf-köpfige Kammer des IStGH nach mündlicher Verhandlung entscheiden. Voraussetzung dafür wäre die Verhaftung der Beschuldigten. Die 124 Vertragsstaaten des „Römischen Statut" sind nun verpflichtet, Netanjahu, Gallant und Deif festzunehmen, wenn sie das jeweilige Staatsgebiet betreten. Sie müssen diese dann an den IStGH in Den Haag ausliefern. 

Wer darf ausgeliefert werden, wer nicht?

Umstritten ist allerdings, ob dies auch für Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Außenminister gilt. Grundsätzlich genießen diese völkerrechtliche Immunität, das heißt, sie können von anderen Staaten grundsätzlich nicht festgenommen werde. Damit soll der diplomatische Verkehr geschützt werden. Im „Römischen Statut" ist allerdings geregelt, dass die Immunität nicht gilt, wenn einem Staatsoberhaupt oder Regierungschef Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden.

Auch ist weiter umstritten, ob diese Durchbrechung der Immunität nur für Politiker der 124 Vertragsstaaten gilt oder für alle Staats- und Regierungschefs weltweit. Der IstGH hat entschieden, dass die Durchbrechung der Immunität weltweit gilt, weil sie auf Gewohnheitsrecht beruht. Nur deshalb war auch der Haftbefehl gegen Wladimir Putin wegen verschleppter ukrainischer Kinder im März 2023 möglich. Manche Völkerrechtler wie der Wiesbadener Rechtsprofessor Matthias Friehe halten diese Argumentation für falsch. Da noch nie ein amtierendes Staatoberhaupt nach Den Haag ausgeliefert wurde, könne es gar kein Völkergewohnheitsrecht geben. 

Wenn die Bundesregierung gelegentlich betont, sie werde in solchen Fällen „nach Recht und Gesetz" entschieden, lässt sie wohl bewusst noch offen, welcher Argumentation sie sich anschließt.

Wie geht Deutschland mit dem Haftbefehl um?

Für Deutschland ist die Situation mit Blick auf Israels Regierungschef Netanjahu besonders heikel. Einerseit gilt die Unterstützung Israels als deutsche Staatsräson, also als eine fundamentale politische Verpflichtung. Andererseits war Deutschland stets einer der wichtigsten Unterstützer des IStGH und kann daher dessen Entscheidungen nicht einfach ignorieren. Der IStGH selbst hat keine Zwangsmittel gegen Staaten, die gegen ihre Pflicht zur Kooperation verstoßen. 

Auf die Frage, ob Deutschland Waffen nach Israel liefern kann, werden die Haftbefehle nur mittelbare Auswirkungen haben. Die derzeitige Regierung von Olaf Scholz (SPD) hält Waffenlieferungen für vertretbar, weil Israel zugesagt hat, die Waffen nur völkerrechtskonform einzusetzen. Dass der IStGH nun die bisherige Kriegsführung für illegal und strafbar hält, dürfte den Wert solcher Zusagen erschüttern, vor allem, solange Israel die Einschätzung des IStGH nicht akzeptiert und für fundamental falsch hält. Die Bundesregierung hat in außenpolitischen Fragen aber einen weiten Einschätzungsspielraum, den auch die von Palästinensern angerufenen deutschen Verwaltungsgerichte bisher betonten.

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Christian Rath

ist rechtspolitischer Korrespondent.

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Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Fr., 22.11.2024 - 17:19

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"...... hält Waffenlieferungen für vertretbar, weil Israel zugesagt hat, die Waffen nur völkerrechtskonform einzusetzen."
Also ich teile die Einschätzung der Bundesregierung nicht mehr.
Generell: Früher war die deutsche Bundesregierung als Vermittler weltweit angesehen, aber die Diplomatie der jetzigen BRD Regierung hat das zuschanden gemacht.

Gespeichert von Matias Leão Ra… (nicht überprüft) am Fr., 22.11.2024 - 21:31

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Die sehr wichtige Staatsräson ist keine Immunisierung vor dem strafrechtlichen Verdacht, mit Hilfe des KI-Systems Lavender Kriegsverbrechen begangen oder völkerrechtswidrige Entscheidungen getroffen zu haben.

Auch ist es im Kerninteresse der Bundesrepublik, internationale Organisationen und Behörden zu unterstützen und zu schützen, die letztlich wegen NS-Deutschland entstanden sind. Der Rechtsschutz und -frieden werden hier dadurch gewahrt, dass erheblichen Verdachtssmomenten vorurteils- und zweifelsfrei nachgegangen wird. Die bis dato vermutlich Unschuldigen haben jedewede Rechtsmittel, sich einer Anklage zustellen.

Ja, sie sind Staatsrepräsentanten Israels, aber gerade der Staat Israel ist nicht angeklagt. Das nimmt die Opfer des Hamasterrors auf beiden Seiten in Schutz.

Die israelischen Opfer der Hamas haben ihre rechtlichen und parlamentarischen Binnenmöglichkeiten, für Klarheit zu sorgen. Das haben die palästinensischen Hamasopfer nicht. Und dafür ist das internationale Recht da!

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