Fast vier Monate nach Assads Sturz: Wie Syrien um seine Zukunft ringt
Nach dem Sturz von Diktator Assad stehen die neuen Machthaber in Damaskus vor großen Herausforderungen. Die Übergangsregierung verspricht, einen Staat für alle Syrer*innen aufzubauen, doch die Partner in der Region haben eigene Interessen.
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Syrien und seine Nachbarländer im Nahen Osten
Noch nicht einmal vier Monate sind vergangen seit dem Sturz Baschar al-Assads in Syrien. Der Untergang des Baath-Regimes nach über 50 Jahren markiert für den Nahen Osten ein monumentales geopolitisches Ereignis, das die Regionalpolitik neu aufmischt. Doch die neue Regierung steht vor gewaltigen Herausforderungen. Dabei geht es keineswegs nur um die Fähigkeiten des neuen Interimspräsidenten Ahmed al-Sharaa, sein zerrissenes Land über alle politischen und konfessionellen Grenzen hinweg zusammenzuführen. Viele, womöglich zu viele externe Akteure haben ein handfestes Interesse daran, dass Syrien scheitert.
In einer seltsamen Ironie der Geschichte knickte dieses blutrünstigste aller arabischen Regime im Dezember letzten Jahres fast lautlos weg. „Assad oder wir verbrennen das Land“ – diese grausame Drohung schleuderten seine Anhänger dem rebellierenden syrischen Volk einst entgegen. Hunderttausende wurden ermordet, Millionen vertrieben – um den Klan an der Macht zu halten. Und doch war zuletzt kein einziger Soldat mehr bereit, auch nur einen Schuss für den Diktator abzugeben.
Jahrzehntelang Irans einziger stabiler Partner
Iran raus, Türkei rein – prägnanter lässt sich der geopolitische Wandel in Damaskus nicht beschreiben. Syrien war für den Iran das entscheidende Bindeglied seiner „Achse des Widerstands“, der über Jahrzehnte einzige stabile staatliche Verbündete der isolierten Mullahrepublik. Dass Assad überhaupt bis 2024 überlebt hat, war allein dem Iran zu verdanken. Dessen strategisches Mastermind Qasem Soleimani organisierte die Hilfe durch Hisbollah und andere Milizen, die Syriens Volksaufstand im Blut ertränkten. Diesmal allerdings brach das Regime schneller zusammen, als der Iran reagieren konnte. Für Teheran ist es die größte anzunehmende Katastrophe. 40 Jahre iranischer Levantestrategie haben sich in Luft aufgelöst. Die Hisbollah, einst Kronjuwel im Gefüge der iranischen Vorwärtsverteidigung, sitzt nun im Libanon wie auf einer Insel fest, ohne Hoffnung auf Nachschub und Wiederbewaffnung. In Damaskus herrschen derweil die Salafisten – ob geläutert oder nicht, ist noch unklar. Doch die neuen Machthaber machen keinen Hehl daraus, dass sie den Iran als Feind betrachten – und ihm nicht vergeben wollen.
Dass ein arabisch-nationalistisches Regime überhaupt ein Bündnis mit den ideologisch so gegensätzlichen persischen Islamisten eingehen konnte, lag nicht allein am geteilten Antiimperialismus. Sondern auch daran, dass das Assad-Regime, auch wenn es diesen Vorwurf stets von sich wies, von vielen als „Alawitenregime“ wahrgenommen wurde. Die Märzmassaker an der syrischen Küste, bei denen Milizen mit Nähe zur neuen Regierung zahlreiche Angehörige dieser schiitischen Minderheit abschlachteten, sind nicht nur Ausdruck eines fanatischen Salafismus. Sie spiegeln auch tiefsitzende Ressentiments gegen eine vormals als privilegiert wahrgenommene Gruppe wider.
Es gehört zur Tragödie der iranischen Revolution, dass sie die innerislamische konfessionelle Scheidelinie nie überwand. In der Region fand der Iran allein bei schiitischen Minderheiten dauerhaften Rückhalt. Das alawitisch dominierte Regime in Syrien gehörte dazu, inszenierte sich Assad doch gerne als Schutzmacht der nicht-sunnitischen Volksgruppen. Nun darf der Iran als Spoiler Nummer 1 für eine neue Konsolidierung Syriens gelten. Teheran ist der natürliche Verbündete jener Überreste der Assad-Armee, die sich nun im alawitischen Küstenland neu organisiert. Ihr Angriff auf die Sicherheitskräfte des Regimes ging den jüngsten Massakern voraus.
Israel fürchtet neue Machthaber
In einer bitteren Ironie der Geschichte teilen hier Teheran und sein Erzfeind Israel ein Interesse. Beide setzen offensichtlich auf den Zerfall Syriens unter Inkaufnahme eines neuen Bürgerkriegs. Assads Fall war nur auf den ersten Blick ein Sieg für Israel, zumal indirekte Folge des Enthauptungsschlags gegen die Hisbollah. Doch Assad war „the devil we knew“, das vertraute Übel. Syrien war innerhalb der iranischen Achse nie ein Aktivposten. Der Diktator tat provokant wenig, um der Hisbollah zu helfen, wirkte mit seinen Avancen Richtung Golfstaaten eher wie ein Verräter an der Sache. Schon vor dem Sturz Assads kontrollierte Israels Luftwaffe den syrischen Luftraum. Doch erst nach seinem Abgang wurden Militärgerät und Flugabwehr vollends ausgeschaltet. Offenbar fürchtet Israel die neuen Machthaber, trotz ihrer zarten Avancen, mehr als Assad. Das israelische Narrativ ist darauf ausgerichtet, das neue Syrien als Todesgefahr für Minderheiten darzustellen. Ganz aktiv sucht Israel nun nach Verbündeten unter Drusen und Kurden.

Es ist das Wiederaufleben der alten Peripherie-Doktrin, mit der Tel-Aviv einst Allianzen suchte jenseits der sunnitisch-arabischen Mehrheitsregime. Der jüdische Staat als Schutzmacht der Minderheiten – das ist als Narrativ im Westen anschlussfähig sowohl auf rechts wie links. Hiermit lässt sich die aktuelle Besetzung syrischen Territoriums an der Grenze zu Israel rechtfertigen. Doch gerade ein übersteigerter Konfessionalismus bedroht die Minderheiten – besonders in Syrien, wo Landkarten wenig über die konfessionelle Verteilung aussagen. Hier wird der Hass gesät, der die konfessionelle „Flurbereinigung“ erst möglich macht. Nebenan wartet das multikonfessionelle Pulverfass Libanon nur darauf, entzündet zu werden.
Erdoğans Chance
Syrien ist das einzige arabische Land, mit dem sich ein Abraham-Abkommen für Israel nicht lohnt. Der Preis wäre der völkerrechtswidrig annektierte Golan, den niemand in Tel-Aviv zu räumen bereit ist. Der Umsturz in Damaskus ist für Israel auch deshalb ein Fall „vom Regen in die Traufe“, weil man statt des Iran plötzlich die sehr viel potentere Türkei an den eigenen Grenzen wähnt. Mit dem aufstrebenden 80-Millionen-Staat am Bosporus und seiner den Muslimbrüdern anverwandten Regierung empfinden die sunnitischen Araber im Maschrek weit mehr kulturell-politische Affinität als mit den irrealen Glitzerwelten vom Golf oder dem klerikalen Regime in Teheran.
Für Erdoğans Türkei bietet das neue Syrien nach dem Scheitern in Tunesien und Ägypten endlich die Möglichkeit, innerhalb der arabischen Welt einen gleichgesinnten Staat zu installieren. Es wäre nicht nur ein Triumph für neo-osmanische Träume, es würde Ankara auch erlauben, in unmittelbarer Nähe zu Jerusalem als Schutzherr der Palästinenser aufzutreten. Ein beispielloser Prestigegewinn für ein Land, das nach seinem langen kemalistischen Weg nach Westen die Führung der muslimischen Welt anstrebt. Dieses Experiment birgt zwei Risiken. Zum einen ist die siegreiche HTS-Miliz unter Interimspräsident al-Sharaa zwar pro-türkisch, sie stammt ideologisch jedoch aus dem radikaleren Salafismus. Gerade diese Strömungen gaben sich in den letzten Wochen der konfessionellen Gewalt hin. Das Resultat könnte ein erneuter Bürgerkrieg sein oder ein Regime, das international zum Paria wird. Zweitens ist es gerade die Nähe zur Türkei, die die Spoiler antreibt. Niemand will in Damaskus einen türkischen Satellitenstaat sehen. Je unabhängiger sich al-Sharaa von Ankara machte, desto bekömmlicher würde er auch für die Gegner Erdoğans.
Denn auch die moderaten Araber blicken mit großem Misstrauen nach Damaskus. Für sie ist das neue Syrien ein Spätprodukt des verhassten arabischen Frühlings. Ob in Kairo, Amman, Riad oder Abu Dhabi: keinem Herrscher ist daran gelegen, dass in Syrien eine Spielart des politischen Islams reüssiert. Für Arabiens Potentaten gilt der Islamismus als die größte Bedrohung ihrer Herrschaft. Aus Ägypten kennt man das Drehbuch der Konterrevolution.
Wer bestimmt das Schicksal des Landes?
Auf Syrien lastet nicht nur die Geopolitik wie ein Albtraum – auch ein Krieg der Narrative tobt. So marschiert die israelische Propaganda im Gleichschritt mit dem Erzfeind aus Teheran. Westliche Antiimperialisten, die den diskreditierten Assad zum Bollwerk gegen Washington stilisierten, bilden eine unausgesprochene Allianz mit MAGA-Ideologen, die Amerika im Kampf gegen den globalen Islam wähnen. Liberale Skeptiker im Westen fühlen sich durch die ausbrechende Gewalt an Syriens Küste in ihren Zweifeln bestätigt. Dazwischen Moskau, gerade noch Verlierer, aber auch Meister der Desinformation. Für die Russen bietet Syrien die Möglichkeit, bei geringem eigenem Einsatz geopolitische Rivalen zu binden.
Die Rebellenoffensive im Spätherbst 2024 war ein seltenes Beispiel rein syrischer Handlungsmacht. Der Zusammenbruch lief zu schnell. Plötzlich wurden sie alle zu Zaungästen: Teheran und Moskau, ebenso wie Tel-Aviv und Washington. Selbst Ankara war überrascht. Doch dieser Moment ist vorbei. Das Schicksal des Landes wird nicht nur unter Syrern ausgemacht. Doch die Sterne stehen nicht günstig. Es gilt: Je besser die Befriedung und Versöhnung im Innern gelingt, desto größer ist auch die Chance, sich außenpolitisch freizuschwimmen. Niemand hätte einen solchen Erfolg mehr verdient als das syrische Volk.