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EU-Beitritt der Türkei: „Die Türen werden nicht zugemacht“

Nicht erst seit der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu steht der Rechtsstaat in der Türkei unter Druck. Unter diesen Bedingungen ist eine EU-Beitritt ausgeschlossen, sagt die SPD-Europaaggeordnete Vivien Costanzo. Einen Abbruch der Verhandlung hält sie aber für falsch.

von Kai Doering · 22. Mai 2025
Fahnen der Türkei und der EU

Ein EU-Beitritt liegt zurzeit in weiter Ferne, ist aber nicht ausgeschlossen, sagt die SPD-Europaabgeordnete Vivien Costanzo.

Wie jeder EU-Beitrittskandidat wird auch die Türkei jährlich in einem Bericht bewertet. Gerade hat sich das Europaparlament mit dem diesjährigen Bericht befasst. Zu welchen Erkenntnissen kommt der?

Als Sozialdemokraten haben wir ja sehr intensive und gute Beziehungen zur Türkei, insbesondere zu unserer Schwesterpartei der CHP. Der aktuelle Bericht, der die Entwicklungen in der Türkei für 2023 und 2024 zusammenfasst, spiegelt das Gefühl wider, dass wahrscheinlich viele beim Blick in die Medien haben: Die Situation in der Türkei hat sich massiv verschlechtert. Das Land ist weit entfernt von Rechtsstaatlichkeit und von der Achtung der Menschenrechte. Damit ist klar, dass die „Kopenhagener Kriterien“, die von der EU als Voraussetzung an einen Beitritt geknüpft werden, von der Türkei zurzeit nicht erfüllt werden.

Gibt es auch positive Entwicklungen?

Ja, die gibt es. Die Wirtschaft hat sich in den vergangenen beiden Jahren etwas positiver entwickelt. Als Europaparlament ist uns auch sehr bewusst, dass wir mit der Türkei einen strategischen Partner haben und dass dieser strategische Partner wichtig ist.

Vivien
Costanzo

Die Türkei profitiert genauso von der EU wie die EU von ihr.

Welche Bedeutung hat die Türkei für die EU?

Die Türkei ist ein strategisch wichtiger Partner – für die Europäische Union insgesamt, aber für Deutschland fast noch mehr. Die Türkei profitiert genauso von der EU wie die EU von ihr. Das ist keine Einbahnstraße.Auch ohne einen direkten Beitritt arbeiten wir auf vielen Ebenen zusammen, auch mit Blick auf die NATO. Ich hoffe sehr, dass die Türkei auf absehbare Zeit einen anderen Weg einschlagen wird. Davon würden beide Seiten sehr profitieren.

Ein EU-Beitritt der Türkei ist also nicht vom Tisch?

Nein. Die Türen werden nicht zugemacht. Es wird zwar sehr sicher weder heute noch morgen zu einer Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen kommen, die ja seit 2016 auf Eis liegen. Aber wir sehen definitiv, wie wichtig eine strategische Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und der Türkei ist, für beide Seiten. Eine Zollunion oder Visa-Erleichterungen sind auch kurzfristig denkbar, wenn sich die Situation verbessert. Von Seiten der EU werden sie aber immer mit der Forderung kombiniert werden, die Zivilgesellschaft in der Türkei zu schützen.

Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu im März hat weltweit für Proteste gesorgt. In der Türkei gingen und gehen Millionen von Menschen auf die Straße. Wie wird diese zugespitzte Situation vom Europaparlament bewertet?

Die Verhaftung von Ekrem İmamoğlu ist Teil eines fatalen Weges, den die türkische Regierung schon vor längerer Zeit eingeschlagen hat. Präsident Erdogan versucht hier, die Ausschaltung politischer Gegner als Schutz des Rechtsstaats zu verkaufen. Diese Aktion ist der vorläufige Höhepunkt einer ganzen Reihe von demokratiefeindlichen Aktionen und Verhalten, die die türkische Regierung mit Erdogan an der Spitze an den Tag legt. Dabei ist wichtig zu unterscheiden zwischen der türkischen Regierung und der türkischen Bevölkerung. Gerade bei den Jungen sind viele sehr unzufrieden mit dem, was ihr Präsident macht. Diesen Menschen dürfen wir nicht die Tür vor der Nase zuschlagen.

Vivien
Costanzo

Viele Menschen in der Türkei warten sehnsüchtig auf den EU-Beitritt ihres Landes.

Hätten Sie sich nach der Verhaftung İmamoğlus deutlichere Worte aus Europa in Richtung Erdogan gewünscht?

Ich fand die Reaktionen aus Brüssel schon sehr deutlich. Es gab eine große Welle der Solidarität und einige Abgeordnete, insbesondere der sozialdemokratischen Fraktion, sind nur wenige Tage nach der Verhaftung İmamoğlus in die Türkei gereist und haben versucht, ihn im Gefängnis zu besuchen. Das sollte auch bei Erdogan angekommen sein. Als Parlament werden wir auch dafür sorgen, dass die Verhaftung İmamoğlus und die Situation in der Türkei auf der Tagesordnung bleibt. Die entscheidende Frage ist aus meiner Sicht, welche Perspektive wir als EU gerade den jungen Menschen in der Türkei geben können. Da sehe ich insbesondere die EU-Kommission in der Pflicht.

Was erwarten Sie vom neuen Bundeskanzler Friedrich Merz und dem neuen Außenminister Johann Wadephul?

Ich erwarte schon, dass die Bundesregierung gegenüber Erdogan auch mal Druck macht an den entscheidenden Stellen. Die Türkei ist schließlich auch für Deutschland ein wichtiger Partner und es gibt zwischen beiden Ländern viele tiefe Verbindungen. Es geht nicht darum den Lehrmeister zu spielen, aber klar ist, wenn die Türkei es ernst meint mit ihren europäischen Ambitionen müssen sie Standards einhalten und das müssen wir kommunizieren.

Vivien Costanzo

ist SPD-Europaabgeordnete aus Baden-Württemberg. Sie ist Mitglied in den Ausschüssen für Verkehr und Tourismus sowie für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten. Zudem ist sie Mitglied der Türkei-Delegation des EU-Parlaments.

Die SPD-Europaabgeordnete Vivien Costanzo lehnt an einer Brücke.

Die EU- Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden 2005 aufgenommen und sind seit 2016 pausiert. Ist ein EU-Beitritt der Türkei überhaupt noch realistisch?

So wie die Türkei sich gerade entwickelt, nicht. So ehrlich müssen wir sein. Trotz allem halte ich nichts davon, die Beitrittsverhandlungen jetzt abzubrechen, wie es manche fordern. Viele Menschen in der Türkei warten sehnsüchtig auf den EU-Beitritt ihres Landes. Für sie ist die EU ein Hoffnungsträger. Ihnen eine Perspektive zu geben, halte ich deshalb für sehr wichtig. Ein EU-Beitritt passiert ja auch nicht von heute auf morgen. Sollte sich die politische Situation ändern, sollte es freie Wahlen geben, die Türkei also einen anderen Weg einschlagen, können wir über vieles reden.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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