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Streit um Justizreform: Warum Israel ein heißer Sommer bevorsteht

Auch nachdem Ministerpräsident Netanyahu die umstrittene Justizreform aufgeschoben hat, bleibt die innenpolitische Lage in Israel weiter angespannt. Es drohen neue Unruhen in den kommenden Monaten.
von Richard C. Schneider · 12. April 2023
Die Polizei attackiert mit Wasserwerfern Menschen, die gegen Netanyahus umstrittene Justizreform in Israel demonstrieren.
Die Polizei attackiert mit Wasserwerfern Menschen, die gegen Netanyahus umstrittene Justizreform in Israel demonstrieren.

Seit Monaten befindet sich Israel in einer existentiellen innenpolitischen Krise. Premier Benjamin Netanyahu hatte Ende vergangenen Jahres mit seiner Likud-Partei eine Koalition mit ultraorthodoxen und rechtsextremen Parteien gebildet, die die rechteste Regierung in der nun 75-jährigen Geschichte des jüdischen Staates darstellt. Anfang Januar verkündete Justizminister Yariv Levin seine Pläne für eine sogenannte „Justizreform“. Im Kern sieht sie vor allem zwei Dinge vor:

Ende der Gewaltenteilung droht

Zum einen soll das Oberste Gericht zukünftig nicht mehr in der Lage sein, Gesetze, die die Regierung beschlossen hat, zu kippen, wenn sie gegen die „Basic Laws“ verstoßen. Die Basic Laws sind eine Art Grundgesetz. Verwirft das Gericht dennoch neue Gesetze, dann kann die Regierung mit der einfachen Mehrheit von 61 Stimmen in der 120 Sitze umfassenden Knesset die Entscheidung der Richter überstimmen. Zum anderen will Levin das Komitee, das neue Richter bestimmt, künftig so zusammenstellen, dass die Regierungsparteien die Oberhand haben und mittel- und langfristig die Gerichte mit ihnen genehmen Richter*innen besetzen können.

Im Klartext läuft dies auf das Ende der Gewaltenteilung und dem Ende der Demokratie hinaus, wie sie in Israel bis heute existiert. Die Regierungsparteien erklären, die neuen Gesetze würden die Demokratie stabiler machen, da das Oberste Gericht in den vergangenen Jahrzehnten eine Machtfülle erlangt hat, wie es sie in keinem anderen Land gibt.

Das ist zwar richtig, doch wird dabei unterschlagen, dass das politische System in Israel keinerlei andere Kontrollinstanzen hat als das Oberste Gericht. Anders als in anderen demokratischen Staaten gibt es beispielsweise keine zwei Kammern, keine Teilung von Verantwortung und Macht zwischen kommunalen Institutionen und Landesregierungen auf der einen und der nationalen Regierung auf der anderen Seite oder irgendwelche anderen Kontrollstrukturen. So war es in Israel fast nicht zu vermeiden, dass das Oberste Gericht als einzige Institution des Staates, die den Politiker*innen in die Parade fahren konnte, Kontrollaufgaben übernahm, die anderswo auf verschiedene Einrichtungen und Gremien verteilt sind.

Generalstreik als vorläufiger Höhepunkt

Sehr früh begriffen vor allem die liberalen und säkularen Israelis, was diese „Justizreform“ für das Land bedeuten würde. Sie begannen mit Demonstrationen und Streiks, an denen sich zunehmend auch rechte und religiöse Israelis zu beteiligen begannen, da sie der Regierung zwar ideologisch nahe stehen, aber dennoch die Demokratie in ihrer jetzigen Form verteidigen wollen. Umfragen vor etwa einem Monat zeigten, dass mehr als 15 Prozent der Wähler*innen der aktuellen Regierung mit den Reformplänen absolut nicht einverstanden sind.

Die Protestbewegung wurde immer größer, längst demonstrieren wöchentlich Hunderttausende Israelis auf den Straßen. Kleineren und größeren Streiks folgte schließlich sogar ein Generalstreik der Gewerkschaft Histadrut, nachdem Premier Netanyahu völlig unerwartet Verteidigungsminister Yoav Gallant feuerte. Der Grund: Gallant machte, wie es seine Pflicht im Amt ist, darauf aufmerksam, dass die innenpolitische Krise die Sicherheit des Landes gefährde. Er machte das öffentlich, was Netanyahu absolut nicht passte. Denn längst hatten nicht nur Hightech-Unternehmer*innen und Risikokapital-Investor*innen begonnen, ihre Firmen und ihr Geld außer Landes zu schaffen, sondern immer mehr Reservist*innen der israelischen Armee kündigten an, in Zukunft nicht mehr zum Dienst erscheinen zu wollen, falls die Reformen umgesetzt werden.

Noch immer keine Lösung in Sicht

Die Kampfbereitschaft und mehr noch die Moral der Armee drohten zu zerfallen, nachdem sich auch innerhalb der Geheimdienste, wie etwa dem Mossad und dem Shin Bet, zunehmend Unmut über die Regierungspläne breit machte.

Der Rauswurf Gallants führte zu einer spontanen Massendemonstration im ganzen Land, inklusive des Generalstreiks, der Israel lahm legte. Die Wut der Menschen war so groß, dass Netanyahu nachgeben musste. Er kündigte an, die Justizreform erst einmal auf Anfang Mai zu verschieben, wenn die Knesset nach den Pessach-Feiertagen wieder zusammenkommt. Und er gab dem Druck von Präsident Isaac Herzog nach, Gespräche zwischen Regierung und Opposition über eine Kompromiss in Sachen Justizreform zuzulassen. Die Delegationen treffen sich inzwischen regelmäßig in der Residenz des Staatspräsidenten, doch eine Lösung des Problems scheint nicht in Sicht.

Selbst befreundete Staaten gehen auf Distanz zu Netanyahu

Inzwischen ist eingetreten, was Gallant und andere befürchtet hatten. Nicht nur, dass Israels Wirtschaft bereits unter der Krise zu leiden beginnt, nicht nur, dass das internationale Ansehen des Staates schwindet und selbst die US-Regierung mit sehr klaren Worten auf Abstand zu Netanyahu geht und andeutet, dass die enge Kooperation auf Dauer gefährdet sein könnte. Die Feinde Israels, allen voran der Iran, wittern die Schwäche des Landes und wagen es, im Fastenmonat Ramadan den jüdischen Staat immer dreister zu provozieren.

Die Lage in den palästinensischen Gebieten ist sowieso seit Monaten explosiv. Als nach der Ermordung zweier jüdischer Männer im Westjordanland ein Mob radikaler Siedler in die palästinensische Stadt Huwara eingedrungen war und dort ein „Pogrom“ veranstaltete, wie dies der in der Region kommandierende Befehlshaber der israelischen Armee nannte, nimmt die Gewalt immer weiter zu. Und nachdem der extremistische Finanzminister und Minister für zivile Angelegenheiten in den besetzten Gebieten, Bezalel Smotrich, erklärt hatte, dass man „Huwara auslöschen“ solle, begannen selbst befreundete Staaten wie die Vereinten Arabischen Emirate, Bahrain und andere auf immer größere Distanz zur Regierung Netanyahu zu gehen.

Iran schickt seine Stellvertreter

Doch es ist vor allem der Iran, der zündelt und seine Stellvertreter auf Israel loshetzt. Die schiitische Hizbollah-Miliz im Libanon, die von Teheran finanziert und unterstützt wird, arbeitet inzwischen eng mit der Hamas und dem Islamischen Jihad, den beiden islamistischen Terrororganisationen der Palästinenser*innen zusammen. Nach Unruhen zwischen Palästinenser und Israelis auf dem Tempelberg rund um die Al-Aksa-Moschee, feuerte die Hamas vom Libanon aus 34 Raketen auf Israel ab, auch aus Gaza und selbst aus Syrien wurden Raketen auf den jüdischen Staat abgefeuert.

Iran unterstützt all diese Aktionen, schickte auch Drohnen in den Luftraum Israels, die jedoch sofort abgeschossen wurden. Einem Hizbollah-Mann gelang es, vom Libanon nach Israel einzudringen und in Megiddo, etwa 60 Kilometer von der Grenze entfernt, eine Bombe zu legen, die einen 21-jährigen arabischen Israeli bei der Detonation schwer verletzte. Der Bombenleger wurde auf seinem Weg zurück in den Libanon von israelischen Sicherheitskräften erschossen.

Droht ein Bürgerkrieg?

Israel reagierte auf all diese Angriffe, allerdings sehr verhalten, um keinen Krieg loszutreten, aber auch, weil das Land tatsächlich geschwächt ist. Yoav Gallant, der zwei Wochen auf sein Demissionsschreiben wartete und in diesem Limbo als Verteidigungsminister agieren musste, darf inzwischen im Amt bleiben, Netanyahu hat seine Entscheidung widerrufen. Das beruhigt die Armee und die Gesellschaft einerseits. Andererseits fragen sich die Militärs und die Bevölkerung, wie sehr Netanyahu die Dinge noch unter Kontrolle hat, vor allem, da seine beiden rechtsextremen Minister, der schon oben genannte Bezalel Smotrich und der Nationale Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir, dem offiziell die Polizei untersteht, mehr oder weniger machen, was sie wollen. Als Netanyahu den Aufschub der Justizreform verkündete, wollte Ben Gvir die Koalition verlassen. Es hätte das Ende Netanyahus bedeutet. So versprach er ihm, was dieser unbedingt wollte: eine eigene Nationalgarde. Selbst die Polizei spricht nun davon, dass der Minister damit eine „kleine Privatarmee“ erhalten könnte und sind entsetzt.

Die Bevölkerung geht unterdessen weiterhin auf die Straße. Im Mai kommt die Knesset wieder zusammen. Dann soll die Justizreform durchgepeitscht werden, heißt es. Die Mehrheit im Land will das nicht zulassen. Trotz der Gefahren von außen steuert das Land auf einen innenpolitischen Machtkampf zu. Viele befürchten gar einen Bürgerkrieg, Gewaltausbrüche zwischen Befürwortern der Pläne und deren Gegnern. Israel steht ein heißer Sommer bevor. Und niemand weiß im Augenblick, wohin das Land steuert.

Autor*in
Richard C. Schneider

ist ein deutscher Journalist, Autor und Dokumentarfilmer. Von 2006 bis 2016 war er Leiter der ARD-Fernsehstudios in Tel Aviv und verantwortlich für Israel, die Palästinensischen Autonomiegebiete und Zypern.

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