Inland

WSI-Experte zur Rente: „Leisten wir uns genug?“

Oft wurde bereits ein „Kollaps“ des Rentensystems vorhergesagt - bislang blieb er jedoch aus. Im Interview erklärt Florian Blank vom Institut WSI der Hans-Böckler-Stiftung, warum er das deutsche System weiterhin für passend hält, und was er über die Rente mit 70 denkt.

von Vera Rosigkeit · 26. August 2025
Zwei alte Leute auf einer Straße.

Immer wieder wird die Rente hitzig diskutiert - zu Unrecht, meint ein Experte, der an die Zukunft des deutschen Systems glaubt.

Schenkt man vielen Medien dieser Tage Glauben, steht unser Rentensystem kurz vor dem Kollaps. Ist es so dramatisch?

Das ist eine starke Übertreibung und wenn von „Kollaps“ gesprochen wird, schlicht falsch. Unser Rentensystem funktioniert. Es ist ein Umlageverfahren mit vielen flexiblen Elementen. Wenn mehr Geld gebraucht wird, kann beispielsweise der Beitragssatz angehoben werden. Das ist die Logik in diesem System und alles andere als ein Kollaps. 

Aber vor zu hohen Beitragssätzen wird ja immer gewarnt…

Hier ist die Frage, für wen sie zu hoch sind und was zu hoch heißt? Trotz aller Warnungen, dass das System nicht mehr bezahlbar ist, haben wir seit vielen Jahren einen sehr stabilen Beitragssatz von 18,6 Prozent. Der wird auch im kommenden Jahr sicher nicht plötzlich auf 22 Prozent steigen, sondern wenn er steigt, dann schrittweise. Alternativ könnte man auch zulassen, dass das Rentenniveau sinkt, aber hier will die Koalition gerade die Stabilisierung bei 48 Prozent bis zum Jahr 2031 beschließen, was ich für sinnvoll halte.

Wann wäre denn ein Beitragssatz zu hoch?

Es gibt keine Grenze, die festlegt, ob beispielsweise 19,5 oder 21 Prozent zu viel sind. In Österreich liegt der Beitragssatz seit Jahrzehnten bei 22,8 Prozent. Natürlich mögen einem mit Blick auf die Lohnabrechnung höhere Abzüge nicht gut gefallen. Die Frage ist doch aber: Ist es das wert? Wenn wir sicher wissen, dass das Sozialsystem liefert, für uns, für unsere Eltern und auch für unsere Kinder, dann werden Beiträge anders beurteilt, als wenn uns ständig eingeredet wird, dass das alles nichts taugt. 

Florian Blank

Die Erzählung der Rentner- oder Greisenrepublik begleitet uns schon seit Jahrzehnten.

Ist der demografische Wandel das Problem?

Die Erzählung der Rentner- oder Greisenrepublik begleitet uns schon seit Jahrzehnten. Der demografische Wandel ist eine Herausforderung. Das Umlageverfahren gibt uns die Möglichkeit, flexibel zu reagieren, auch jetzt, wenn die Boomer-Generation in Rente geht. Wir können immer nachsteuern. Die Erzählung, dass das Rentensystem vor dem Kollaps steht, geht in erster Linie mit neoliberalen Vorschlägen einher, die auf eine Privatisierung der Alterssicherung hinauslaufen. Diese Story vernachlässigt auch, dass über Jahrzehnte hinweg die Politik daran gearbeitet hat, die Rentenversicherung stabil zu halten und weiterzuentwickeln.

Florian Blank

Fakt ist: Wir haben eine Rentenversicherung, die ist in der Struktur intakt ist und jeden Monat liefert.

Wenn jetzt auch noch behauptet wird, die Politik mache das doch nur für die Alten, die Rentenversicherung sei unbezahlbar und Beiträge lohnten sich nicht mehr, werden damit andere inhaltliche Diskussionen verhindert. Denn Fakt ist: Wir haben eine Rentenversicherung, die ist in der Struktur intakt ist und jeden Monat liefert. Die Frage, um die es gehen sollte, ist doch vielmehr: Was wollen wir uns leisten, was macht eine gute Alterssicherung aus? An diesem Punkt kommen Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen ins Spiel. 

Diese Erzählung vom Kollaps geht auch immer einher mit der Forderung, wir müssen alle länger arbeiten. Würde die Rente mit 70 Probleme lösen?

Auch hier ist die Frage: Für wen. Rein rechnerisch würden die Rentenlaufzeiten kürzer, weil die Menschen drei Jahre weniger Rente beziehen würden. Geht der Plan auf, arbeiten sie auch drei Jahre länger und zahlen drei Jahre länger Beiträge. Gekoppelt mit der Abschaffung der abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren würde das System billiger, die Beiträge lägen niedriger. Und zwar auch für die Arbeitgeber: Denn ihnen würden Arbeitskräfte länger und dann noch mit einem niedrigeren Beitragssatz in der Rentenversicherung zur Verfügung stehen. Damit sind wir bei einer Verteilungsfrage, die nicht zwischen Jung und Alt verläuft, sondern alle Generationen betrifft.

Florian Blank

Das permanente Schlechtreden bringt uns gar nicht weiter.

Was wären die Nachteile?

Noch mehr Menschen werden Probleme haben, das Renteneintrittsalter zu erreichen. Die Lebenszeit im Ruhestand verkürzt sich. Die dauernde Diskussion führt auch zu einer fehlenden Berechenbarkeit, wann es denn auch genug sein darf. Denn es gibt Menschen, die mit unter 20 Jahren ins Berufsleben starten. Für die beinhaltet eine Rente mit 70 über 50 Jahre Berufslaufbahn. Da muss man realistisch fragen, für wen das machbar ist. Und auch, ob das gerecht ist. Hier werden Ungleichheiten sichtbar, die wir nicht lösen, indem wir pauschal das Renteneintrittsalter für alle anheben.

Sie haben es bereits angedeutet: Wie sähe eine fortschrittliche Erzählung aus?

Sie beginnt mit der Feststellung, dass wir ein Rentensystem haben, das liefert, das seit den 1890er Jahren stabil ist, das funktioniert und flexibel ist, solidarisch ist, demokratisch kontrolliert wird und immer weiterentwickelt wurde. Aus den Beiträgen, die wir einzahlen, werden Leistungen finanziert. Auf dieser Grundlage können uns darüber streiten, ob das die richtigen Leistungen sind und ob die Finanzierung fair ist. Als Beispiel meine ich die Diskussion um Leistungen wie beispielsweise die Mütterrente.

Wir können auch darüber streiten, in welchem Maß die Alterssicherung über Erwerbstätigkeit finanziert werden soll. Ich erinnere hier an die Ökosteuer-Reform unter Rot-Grün, mit der das Vorhaben verbunden war die Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung erhöhen, um den Beitragssatz zu stabilisieren und so den Faktor Arbeit zu entlasten, was letztendlich auch der Wirtschaft zugutekommt. Auch wissen wir, dass in anderen Ländern deutlich mehr Geld in die öffentliche Alterssicherung fließt.

Über all das kann man streiten, da gibt es keine Naturgesetzmäßigkeit. Vorausgehen sollten aber Fragen wie: Was wollen wir sozialpolitisch erreichen, was wollen wir uns leisten? Leisten wir uns genug oder sollten wir uns vielleicht mehr gönnen? Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten, aber das permanente Schlechtreden bringt uns gar nicht weiter.

Der Gesprächspartner

Florian Blank leitet das Referat Sozialpolitik des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung

Ein lächelnder Mann mit roten Haaren und Anzug.
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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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Gespeichert von Christian Keller (nicht überprüft) am Di., 26.08.2025 - 15:36

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Eine Rentenreform ist notwendig - ja -und richtig die Rente steht nicht vor dem Kollaps...
1. Diese Diskussion Rente mit 70 Jahren hätte man sofort vom Tisch wenn man als SPD sagen würde: Dies ist diskriminierend wir machen es so - wer 45 Jahre lang in die Rentenkasse eingezahlt hat darf egal wie alt Abschlagsfrei in Rente gehen -
2. Beitragsbemessungsgrenzen abschaffen -
3. Beamte und Selbständige wie in Österreich mit aufnehmen
Das würde ich als SPD im Herbst so vorschlagen - und auch umsetzen.....

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