Inland

Mit dieser Rede entließ Olaf Scholz Finanzminister Lindner

„So ist ernsthafte Regierungsarbeit nicht möglich.“ Bei der Entlassung von Christian Lindner als Finanzminister fand Bundeskanzler Olaf Scholz am Mittwochabend deutliche Worte. Wir dokumentieren seine Rede hier im Wortlaut.

von Die Redaktion · 7. November 2024
Es gibt keine Vertrauensbasis für die weitere Zusammenarbeit: Am Mittwochabend bat Bundeskanzler Olaf Scholz um die Entlassung seines Finanzministers Christian Lindner.

Es gibt keine Vertrauensbasis für die weitere Zusammenarbeit: Am Mittwochabend bat Bundeskanzler Olaf Scholz um die Entlassung seines Finanzministers Christian Lindner.

Meine Damen und Herren,

ich habe den Bundespräsidenten soeben um die Entlassung des Bundesministers der Finanzen gebeten.

Ich sehe mich zu diesem Schritt gezwungen, um Schaden von unserem Land abzuwenden. Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung, die die Kraft hat, die nötigen Entscheidungen für unser Land zu treffen. Darum ging es mir in den vergangenen drei Jahren. Darum geht es mir jetzt.

Ich habe dem Koalitionspartner von der FDP heute Mittag noch einmal ein umfassendes Angebot vorgelegt, mit dem wir die Lücke im Bundeshaushalt schließen können, ohne unser Land ins Chaos zu stürzen, ein Angebot zur Stärkung Deutschlands in schwieriger Zeit, ein Angebot, das auch Vorschläge der FDP aufgreift, das aber zugleich deutlich macht: Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen, brauchen wir größeren finanziellen Spielraum.

„Ein solches Verhalten will ich unserem Land nicht länger zumuten.“

Mein Angebot umfasste vier Kernpunkte:

Erstens. Wir sorgen für bezahlbare Energiekosten und deckeln die Netzentgelte für unsere Unternehmen. Das stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Zweitens. Wir schnüren ein Paket, das Arbeitsplätze in der Automobilindustrie und bei den vielen Zuliefererbetrieben sichert.

Drittens. Wir führen eine Investitionsprämie ein und verbessern noch einmal die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten, damit Unternehmen jetzt in den Standort Deutschland investieren.

Viertens. Wir erhöhen unsere Unterstützung für die Ukraine, die einem schweren Winter entgegengeht. Nach der Wahl in den USA sendet das ein ganz wichtiges Signal: Auf uns ist Verlass.

Ich muss jedoch abermals feststellen: Der Bundesfinanzminister zeigt keinerlei Bereitschaft, dieses Angebot zum Wohle unseres Landes in der Bundesregierung umzusetzen. Ein solches Verhalten will ich unserem Land nicht länger zumuten.

„Unsere Unternehmen brauchen Unterstützung, und zwar jetzt.“

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich hätte Ihnen diese schwierige Entscheidung gern erspart, erst recht in Zeiten wie diesen, in denen die Unsicherheit wächst. In denUSA hat Donald Trump die Präsidentschaftswahl klar gewonnen. Dazu habe ich ihm bereits heute gratuliert. Als deutscher Bundeskanzler ist es für mich selbstverständlich, dass ich mit dem künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten gut zusammenarbeiten werde. Gerade in unsicheren Zeiten kommt es auf ein enges transatlantisches Verhältnis an.

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Klar ist, Deutschland wird seiner Verantwortung gerecht werden müssen. Wir müssen in Europa mehr denn je zusammenhalten und gemeinsam weiter in unsere eigene Sicherheit und Stärke investieren. Denn die Lage ist ernst. Es herrscht Krieg in Europa. Im Nahen Osten erhöhen sich die Spannungen.

Gleichzeitig tritt unsere Wirtschaft auf der Stelle. Der schwache Welthandel macht den Unternehmen zu schaffen. Die Energiepreise infolge des russischen Angriffskriegs, die Kosten für die Modernisierung unserer Wirtschaft: All das müssen sie stemmen. Meine Gespräche mit der Wirtschaft zeigen: Unsere Unternehmen brauchen Unterstützung, und zwar jetzt.

„Zu oft hat Bundesminister Lindner Gesetze sachfremd blockiert.“

Wer sich in einer solchen Lage einer Lösung, einem Kompromissangebot verweigert, der handelt verantwortungslos. Als Bundeskanzler kann ich das nicht dulden. Immer wieder habe ich in den vergangenen drei Jahren Vorschläge gemacht, wie eine Koalition aus drei unterschiedlichen Parteien zu guten Kompromissen kommen kann. Das war oft schwer. Das ging mitunter hart an die Grenze auch meiner politischen Überzeugung. Aber es ist meine Pflicht als Bundeskanzler, auf pragmatische Lösungen zum Wohle des ganzen Landes zu drängen.

Zu oft wurden die nötigen Kompromisse übertönt durch öffentlich inszenierten Streit und laute ideologische Forderungen. Zu oft hat Bundesminister Lindner Gesetze sachfremd blockiert. Zu oft hat er kleinkariert parteipolitisch taktiert. Zu oft hat er mein Vertrauen gebrochen. Sogar die Einigung auf den Haushalt hat er einseitig wieder aufgekündigt, nachdem wir uns in langen Verhandlungen bereits darauf verständigt hatten. Es gibt keine Vertrauensbasis für die weitere Zusammenarbeit. So ist ernsthafte Regierungsarbeit nicht möglich.

Wer in eine Regierung eintritt, der muss seriös und verantwortungsvoll handeln; der darf sich nicht in die Büsche schlagen, wenn es schwierig wird; der muss zu Kompromissen im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger bereit sein. Darum aber geht es Christian Lindner gerade nicht. Ihm geht es um die eigene Klientel, ihm geht es um das kurzfristige Überleben der eigenen Partei. Gerade heute, einen Tag nach einem so wichtigen Ereignis wie den Wahlen in Amerika, ist solcher Egoismus vollkommen unverständlich.

„Ich halte stets das Wohl unseres ganzen Landes im Blick.“

Streit auf offener Bühne hat viel zu lange den Blick auf das verstellt, was diese Regierung gemeinsam vorangebracht hat: Beim Thema irreguläre Migration kommen wir voran. Gegenüber dem Vorjahr konnten wir sie zuletzt um mehr als 50 Prozent verringern. Im Einsatz für sichere Energie und Klimaschutz machen wir große Fortschritte. Erstmals sind wir auf Kurs, unsere Ausbauziele für Windkraft und Solarenergie wirklich zu erreichen.

Die Inflation ist auf zwei Prozent gesunken, die Reallöhne und die Renten steigen wieder. Wir haben Deutschlands Energieversorgung gesichert und die Energiepreise stabilisiert. Noch vor einigen Jahren musste fast jeder Vierte im Niedriglohnsektor arbeiten. Heute ist es nur noch jeder Siebte. All das sind gute Nachrichten. All das hat die Regierung aus SPD, Grünen und auch FDPzusammen erreicht.

Als Bundeskanzler habe ich einen Amtseid geschworen. Dieser Eid hat für mich große Bedeutung. Ich halte stets das Wohl unseres ganzen Landes im Blick. Meine feste Überzeugung lautet: Niemals, niemals dürfen wir innere, äußere und soziale Sicherheit gegeneinander ausspielen. Das gefährdet unseren Zusammenhalt, das gefährdet am Ende sogar unsere Demokratie.

„Die Unterstützung der Ukraine ist und bleibt wichtig.“

Warum sage ich das? Bundesminister Lindner hat ultimativ und öffentlich eine grundlegend andere Politik gefordert: milliardenschwere Steuersenkungen für wenige Spitzenverdiener und zugleich Rentenkürzungen für alle Rentnerinnen und Rentner. Das ist nicht anständig, das ist nicht gerecht, Steuergeschenke mit der Gießkanne und zur Gegenfinanzierung ein Griff in die Tasche unserer Städte und Gemeinden.

Ein Ausstieg aus Investitionen in die klimafreundliche Modernisierung unseres Landes, auch das will Christian Lindner. Das schürt Unsicherheit in unserer Wirtschaft und es verspielt unsere Chance, bei den Technologien der Zukunft vorne dabei zu sein. Die USA, China und andere schlafen nicht. Verklausuliert spricht Christian Lindner von der Hebung von Effizienzreserven in unseren Sozialversicherungssystemen. Dahinter aber verbergen sich harte Einschnitte bei Gesundheit und Pflege und weniger Sicherheit, wenn jemand in Not gerät. Das ist respektlos gegenüber allen, die sich diese Sicherheiten hart erarbeitet haben, gegenüber allen, die Steuern und Sozialabgaben zahlen.

Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit, und die Wirklichkeit für Deutschland ist: Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Sicherheitslage auf Jahre hinaus tiefgreifend verändert. Wir müssen erheblich mehr in unsere Verteidigung und in die Bundeswehr investieren, übrigens gerade jetzt, nach dem Wahlausgang in den USA. 1,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben bei uns vor dem russischen Bombenterror Schutz gefunden. Das bleibt richtig. Mit bald 30 Milliarden Euro unterstützen wir die Ukrainer in ihrem Abwehrkampf. Auch das tun wir deshalb, weil es unseren eigenen Sicherheitsinteressen dient. Ein russischer Sieg käme uns vielfach teurer zu stehen. Die Unterstützung der Ukraine ist und bleibt wichtig.

„Dieses Entweder-oder ist Gift.“

Ich sage auch ganz klar: Ich bin nicht bereit, unsere Unterstützung für die Ukraine und Investitionen in unsere Verteidigung zulasten des sozialen Zusammenhalts zu finanzieren, zulasten von Rente, Gesundheit oder Pflege. Beides muss sein, Sicherheit und Zusammenhalt. Deshalb werde ich die Bürgerinnen und Bürger auch nicht vor die Wahl stellen: Entweder, wir investieren genug in unsere Sicherheit, oder wir investieren in gute Arbeitsplätze, in eine moderne Wirtschaft und eine funktionierende Infrastruktur. Dieses Entweder-oder ist Gift. Entweder Sicherheit oder Zusammenhalt, entweder die Ukraine unterstützen oder in Deutschlands Zukunft investieren – diesen Gegensatz aufzumachen, ist falsch und gefährlich. Das ist Wasser auf die Mühlen der Feinde unserer Demokratie.

Vor allem aber ist dieses Entweder-oder auch vollkommen unnötig; denn Deutschland ist ein starkes Land. Unter allen großen wirtschaftsstarken Demokratien haben wir mit weitem Abstand die geringste Verschuldung. Es gibt Lösungen, wie wir unser Gemeinwesen und seine Aufgaben solide finanzieren können. Es gibt Lösungen für einen Haushalt, der innere, äußere und soziale Sicherheit gleichzeitig stärkt. Eine solche Lösung habe ich vorgeschlagen. Das Grundgesetz sieht in Artikel 115 ausdrücklich vor, in einer außergewöhnlichen Notsituation einen Überschreitensbeschluss zu fassen, wie das die Koalition Ende vergangenen Jahres übrigens genau für diesen Fall vereinbart hatte. Der russische Angriffskrieg, der nun schon im dritten Jahr tobt, sowie all seine Folgen sind eine solche Notsituation. Wenn eine Notsituation vorliegt, dann aber hat die Bundesregierung nicht nur das Recht, zu handeln. Dann ist Handeln Pflicht.

„Unsere Wirtschaft kann nicht warten, bis Neuwahlen stattgefunden haben.“

Wie geht es nun weiter? Bundesminister Lindner wird vom Bundespräsidenten entlassen. Mit Vizekanzler Robert Habeck bin ich mir einig: Deutschland braucht schnell Klarheit über den weiteren politischen Kurs. Der reguläre Termin für die Bundestagswahl im Herbst nächsten Jahres liegt noch in weiter Ferne. In den verbleibenden Sitzungswochen des Bundestages bis Weihnachten werden wir alle Gesetzentwürfe zur Abstimmung stellen, die keinerlei Aufschub dulden. Dazu zählt der Ausgleich der kalten Progression, damit alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab dem 1. Januar mehr Netto vom Brutto haben. Dazu zählt die Stabilisierung der gesetzlichen Rente. Dazu zählt die schnelle Umsetzung der Regeln des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Dazu zählen Sofortmaßnahmen für unsere Industrie, über die ich derzeit mit Unternehmen, Gewerkschaften und Industrieverbänden spreche. Bis zur letzten Sitzung des Bundesrates in diesem Jahr am 20. Dezember sollten diese Beschlüsse gefasst sein.

Gleich in der ersten Sitzungswoche des Bundestages im neuen Jahr werde ich dann die Vertrauensfrage stellen, damit der Bundestag am 15. Januar darüber abstimmen kann. So können die Mitglieder des Bundestages entscheiden, ob sie den Weg für vorgezogene Neuwahlen freimachen. Diese Wahlen könnten dann unter Einhaltung der Fristen, die das Grundgesetz vorsieht, spätestens bis Ende März stattfinden.

Meine Damen und Herren, ich werde nun sehr schnell auch das Gespräch mit dem Oppositionsführer, mit Friedrich Merz, suchen. Ich möchte ihm anbieten, in zwei Fragen, gern auch mehr, die entscheidend für unser Land sind, konstruktiv zusammenzuarbeiten, bei der schnellen Stärkung unserer Wirtschaft und unserer Verteidigung. Denn unsere Wirtschaft kann nicht warten, bis Neuwahlen stattgefunden haben, und wir brauchen jetzt Klarheit darüber, wie wir unsere Sicherheit und Verteidigung in den kommenden Jahren solide finanzieren, ohne dafür den Zusammenhalt im Land aufs Spiel zu setzen. Auch mit Blick auf die Wahlen in Amerika ist das vielleicht dringender denn je. Es geht darum, jene Entscheidungen zu treffen, die unser Land jetzt braucht. Darüber werde ich mit der verantwortlichen Opposition das Gespräch suchen.

„Diese Fähigkeit darf uns nicht abhandenkommen.“

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werde ich weiterhin meine gesamte Kraft dafür aufwenden, unser Land durch diese schwierige Zeit zu führen. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit den richtigen Entscheidungen gestärkt aus dieser Krise herauskommen werden.

Eine persönliche Bemerkung möchte ich noch hinzufügen. Ich habe zu Anfang über die Notwendigkeit gesprochen, Kompromisse zu schließen. Diese Fähigkeit darf uns nicht abhandenkommen. Wer in den vergangenen Wochen in die USA geblickt hat, der hat ein Land erlebt, das tief zerrissen ist, ein Land, in dem politische Unterschiede Freundschaften und Familien zerstört haben, in dem Ideologie die Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg fast unmöglich gemacht hat. Das darf uns in Deutschland nicht passieren, gerade weil wir es auch in Zukunft mit Wahlergebnissen zu tun haben werden, die Kooperation und Kompromisse erfordern. Das ist oft mühsam. Aber genau das hat Deutschland stark gemacht, das zeichnet uns aus. Daran arbeite ich als Ihr Bundeskanzler.

Schönen Dank.

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3 Kommentare

Gespeichert von Peter Boettel (nicht überprüft) am Do., 07.11.2024 - 14:53

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Ich habe die Entscheidung von Olaf Scholz auf dem Heimweg von einer SPD-Veranstaltung erfahren und mir hinterher sofort die Rede angehört. Es war die beste Rede, die ich je von Olaf Scholz vernommen habe; jeden Satz kann ich voll unterstützen.
Wie bereits mehrfach in diesem Forum und in Leserbriefen in den letzten Jahren dargelegt, habe ich die ständige Blockadehaltung Lindners kritisiert, der zwar schon den Koalitionsvertrag mit Ablehnung von Steuergerechtigkeit, Festhalten an der Schuldenbremse, Weigerung eines Tempolimits u.ä. stark verwässert hatte, ihn dann aber nicht einmal einhalten wollte. Es mutet schon eigenartig an, wenn ausgerechnet der Porsche- und Lobbyistenminister a.D. sich auf seinen Amtseid beruft, den ausgerechnet er ständig gebrochen hat, indem er statt "den Nutzen des Volkes zu mehren und Schaden von ihm zu wenden" alle Klimaziele verworfen und nur den Nutzen seiner Lobbyisten im Sinne hatte sowie statt "Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben" nur für die steigenden Profite der Großunternehmen durch Steuernachlässe eingetreten ist.
Um seine Zukunft muss man sich keine Sorgen machen, er wird sicherlich schon bald eine "Anschlussverwendung" entsprechend den Worten seines Parteifreundes Rösler bei Porsche oder einem anderen Unternehmen finden.
Bleibt zu hoffen, dass die FDP auch aus den weiteren Parlamenten fliegt, woraus Lindner nie etwas gelernt hatte.

Gespeichert von Matias Leão Ra… (nicht überprüft) am Do., 07.11.2024 - 18:17

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Ich bin mir nicht so sicher, ab wann die FDP sich dessen bewusst war, dass sie sich aus der Regierungsverantwortung zurückziehen will. Der Gedanke kam mir schon, als Maria-Agnes Strack-Zimmermann plötzlich für das Europaparlament kandidierte, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Es gehörte vielleicht zum guten Stil, Olaf Scholz nicht fortwährend zu kritisieren, dass er einen allzu pragmatischen Kurs gefahren ist. Das Saskia Esken plötzlich davon sprach, dass man eine sozialdemokratisch geführte Regierung erkennen müsse, war durchaus nicht die Vision Olaf Scholzes. Er glaubte eine Koalition geschmiedet zu haben, die weit über diese Amtsperiode trag- und zukunftsfähig sei. Und es waren erst die Freidemokraten, die sich mit Den Grünen zusammengetan haben, um gegenüber der SPD in Verhandlungen stärker aufzutreten. Umso erstaunter musste man zusehend hilfloser feststellen, dass diese Zuversicht immer mehr einem Burgfrieden wich und insbesondere die FDP immer weiter in die regierungsinterne APO abglitt. Es spielte plötzlich keine Rolle mehr, ob man sich das Koalitionspapier vergegenwärtigt hatte oder nicht. Es waren ohnehin bis dato nur 38 % aller Vorhaben umgesetzt worden. Ich will nicht ausschließen, dass der ordoliberale Christina Lindner immer weiter vom neolibertären Frank Schäffler ausgebootet wurde. Irgendeinen Tod musste also Lindner sterben. Aber als Wulf Schmiese das Grundsatzpapier zur deutschen Finanz- und Wirtschaftspolitik mit dem "Lambsdorff-Papier" von 1982 verglich, musste man sich eingestehen, dass der Schwanz begann, mit dem Hund zu wedeln. Olaf Scholz konnte nur noch eine Exit-Variante wählen. Jetzt mag es sein, dass jetzt aus wahlkampftaktischen Gründen jeweilige Erzählweisen [Narrative] platziert werden, um im Wahlkampf die bestmögliche Ausgangsposition zu haben. Insoweit hat Olaf Scholz souverän und resolut gehandelt. Die SPD wünscht ihn daher als Spitzenkandidat. Das allein bringt mich ins Zweifeln. Wäre es nicht doch besser, das Boris Pistorius der oberste Wahlkämpfer wird. Es ist nicht vorstellbar, dass Olaf Scholz als Juniorpartner plötzlich Vizekanzler wird, oder Fraktionsvorsitzender oder gar einfacher Hinterbänkler. Hier sollte er sich genauso ehrlich machen, wie mit seiner durchaus sensationellen Rede.

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Sa., 09.11.2024 - 17:54

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... um Schaden von unserem Land abzuwenden“, nachdem er diesen existenziellen Schritt durch ein „Angebot“ abzuwenden versucht hatte, dass Lindner aber ausschlug. Das Angebot „umfasste vier Kernpunkte“ deren vierter versprach, „wir erhöhen unsere Unterstützung für die Ukraine (gegen Russlands Angriffskrieg), die einem schweren Winter entgegengeht.“ Für Scholz ist dieser (4.) Kernpunkt wichtig genug, von ihm eine Zusammenarbeit mit der FDP als Koalitionspartner abhängig zu machen, weil „die Ukrainer in ihrem Abwehrkampf ... unseren eigenen Sicherheitsinteressen dienen. Ein russischer Sieg käme uns vielfach teurer zu stehen“. (Mit „käme uns vielfach teurer zu stehen“ könnte (z. B.) gemeint sein, dass Putin Nato-Länder, was bisher noch nicht geschehen und auch eher unwahrscheinlich ist, angreifen könnte - Pistorius weiß sogar schon einen möglichen, ungefähren Termin dafür.) Scholz, so könnte man sagen, berief sich hier auf die „Neuausrichtung sozialdemokratischer internationaler Politik“ (Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch, Berlin,20.01.2023;S. 1), nach der „unsere Sicherheit und unser Wohlstand eng mit dem der Staaten Mittel- und Osteuropas verbunden sind“ (S. 13), sodass folgerichtig „so schnell wie möglich die Voraussetzungen für die Aufnahme der Ukraine, Moldaus und perspektivisch Georgiens zu schaffen und der Aufnahmeprozess in die EU abzusichern ist“ (S. 14) – alles in der Gewissheit, dass dafür „die eigene Stärke Grundvoraussetzung ist“, die sich nicht zuletzt an „unseren militärischen Fähigkeiten“ misst (S. 1). Möglich, aber wohl unwahrscheinlich, ist, dass Scholz dabei auch auf die „Seiten des Auswärtigen Amts“ rekurrierte, die am 28.12.2020 auf 10 Jahre „Östliche Partnerschaft“-Programm zurückblickten, in denen „die EU ihre politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Beziehungen zu den Nachbarstaaten Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und Ukraine auf der Grundlage gemeinsamer Werte förderte und intensivierte“. Sicher, denn er ist dabei gewesen, dachte Scholz aber an die Nato-Strategie, die kurz und knapp festhält, „eine starke, unabhängige Ukraine ist für die Stabilität des euro-atlantischen Raumes unerlässlich“ (Strategisches Konzept der NATO 2022).

Die Nato bekam zeitgleich mit dem Bruch der Ampelkoalition - real nicht formal – einen neuen „Oberindianer“, der schon seit langem verspricht, den Ukraine-Krieg in kürzester Zeit zu beenden. Das könnte ihm auch durchaus gelingen, weil er, so einige Auguren, an die Friedensverhandlungen vom März/April 2020 anknüpfen will, in denen die Ukraine auf einen Nato-Beitritt zu verzichten und zu Gebietszugeständnissen bereit gewesen ist (Paul Schäfer: Johnson Legende, Blätter ..., 4(2023)68). Für die Bevölkerung der Ukraine wäre das eine Erlösung. Zwar „haben viele Angst, dass Trump die Ukraine fallenlässt. Andererseits gibt es – von einfachen Soldaten bis hin zu Experten – die Hoffnung, dass der Krieg durch Trump beendet werden kann, auf die eine oder andere Weise. So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben – das ist bei vielen die Überzeugung“, wie der Vorwärts (8.11.24), deutlich abgesetzt vom anderslautenden Narrativ all unserer Wortgewaltigen, am (8.11.24) berichtete. Noch ist es nicht so weit, aber der vierte Grund für die Entlassung Lindners verliert schon jetzt deutlich sein Gewicht. Andererseits haben Scholz und die Wortgewaltigen in der SPD ein bisschen Zeit gewonnen, sich für andere Narrative um den Ukraine-Krieg Erklärungen einfallen zu lassen, weil die plötzlich nicht mehr gelten werden.

Olaf Scholz wurde nach Aufkündigen der Koalition von der SPD-Fraktion mit stehenden Ovationen (Vorwärts, 7.11.24) empfangen. Falls Trump sein Friedensversprechen im Ukraine-Krieg einlösen kann, wird unser Bundeskanzler unserer Bevölkerung eine Menge zu erklären haben – und die SPD ihren Wählern.