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20 Jahre nach dem Anschlag: „Es hat die Keupstraße ganz stark verändert“

Am 9. Juni 2004 wurden bei einem Nagelbombenanschlag in der Keupstraße in Köln-Mülheim 22 Menschen verletzt. Erst Jahre später war klar: Es war ein rechtsextremer Anschlag des NSU. Die SPD-Landtagsabgeordnete Carolin Kirsch spricht im Interview über die Auswirkungen auf den Stadtbezirk und die schwierige Debatte um eine geeignete Erinnerungsstätte.

von Jonas Jordan · 8. Juni 2024
Die Keupstraße in Köln-Mülheim

Impression aus der Keupstraße in Köln-Mülheim. Am 9. Juni 2024 soll hier das Kulturfest Birlikte erneut die Menschen in Köln gegen Rassismus bei Musik und Kulturprogramm zusammenbringen. Es ist der 20. Jahrestag des Nagelbombenanschlags auf der Keupstraße 2004, der dem sogenannten NSU zugeschrieben wird.

Am 9. Juni jährt sich der Anschlag in der Kölner Keupstraße zum 20. Mal. Mit welcher Gefühlslage blicken Sie auf diesen Jahrestag?

Mit gemischten Gefühlen. Nachdem damals klar war, dass es Nazis waren, die diesen Anschlag verübt haben, konnte die Aufarbeitung beginnen. Seitdem sind viele Initiativen entstanden von den Menschen in der Keupstraße. Das war eine tolle Entwicklung. Doch bei vielen Menschen in der Keupstraße entsteht durch das Erstarken der AfD und der Rechtsextremen gerade der Eindruck, dass vieles wieder von vorne anfängt. Viele Leute sagen mir, sie haben das Gefühl, es müsse mehr getan werden, um die Demokratie zu schützen.

Passt es insofern, dass der Jahrestag mit der Europawahl zusammenfällt – also zum einen Erinnern an den Anschlag, zum anderen Mahnen vor dem Erstarken der Rechten?

Ja, so empfinden das auch viele derjenigen, die sich engagieren und dort aktiv sind. Sie sagen: „Geht wählen. Gerade jetzt müssen wir noch aktiver werden. Ihr müsst euch selbst äußern und selbstwirksam werden. Ihr könnt nicht darauf warten, dass die Mehrheitsgesellschaft auf euch zugeht.“ Leider. Da tun wir auch noch viel zu wenig. Wir haben zwar in unserer Gesellschaft erkannt, dass es Rassismus gibt, aber wir müssen alle viel mehr machen – auch diejenigen, die zu irgendwelchen Demonstrationen gehen – damit die Menschen, die davon betroffen sind, weniger Rassismus spüren.

Am Sonntag sind nicht nur Reden geplant, sondern es gibt auch ein breites kulturelles und musikalisches Angebot als Teil des Birlikte-Festivals, das gute Stimmung verspricht. Welche Rolle spielt das?

In Köln gehört das auch immer mit dazu. Letztendlich endet immer alles in Köln im Karneval. Das ist auch wichtig. Man kann nicht immer nur bestürzt und traurig sein, weinen und sagen, wie schlimm alles ist. Damit die Menschen Hoffnung bekommen, muss es auch positive Zeichen und Signale geben. Wir wollen über diese Angebote zeigen, dass es viele Dinge gibt, die uns kulturell verbinden und wir gemeinsam feiern können. Gerade die Betroffenen brauchen Optimismus und Hoffnung, um weitermachen zu können. Zudem stellen wir immer wieder fest, dass wir viele Menschen mit politischen Botschaften nur sehr bedingt erreichen können, aber mit kulturellen Botschaften viel besser.

Wie hat sich die Keupstraße in den vergangenen 20 Jahren verändert?

Vor 20 Jahren hatte die Keupstraße auch schon ein recht gutes Image. Nach dem Anschlag gab es erst mal eine große Unsicherheit. Nach der Aufklärung ist dem Letzten klar geworden: „Ja, wir haben ein Problem mit Rassismus in unserer Gesellschaft und wir müssen aktiv was tun.“ Seitdem hat sich noch mal sehr viel getan. Vor allem sind die Betroffenen selbst aktiv geworden, die lange geschwiegen haben und sich auch bis dahin nicht aktiv eingebracht haben in die gesellschaftlichen Debatten. Das ist anders geworden. Insofern hat das die Keupstraße ganz stark verändert.

Carolin Kirsch, SPD-Landtagsabgeordnete

Das änderte sich erst, als klar war, dass es ein rechtsextremer Anschlag des NSU war. Dann setzte ein großes Erschrecken ein, dass das passieren konnte.

Sie haben 2004 bereits im Stadtbezirk Mülheim gewohnt. Wie haben Sie damals vom Anschlag erfahren und die Situation erlebt?

Das Schlimme war damals, dass zwar über den Anschlag berichtet wurde. Dann gab es aber über längere Zeit ein seltsames Verstummen. Es gab Gerüchte und Berichte, aber auch viele falsche Fährten. Das änderte sich erst, als klar war, dass es ein rechtsextremer Anschlag des NSU war. Dann setzte ein großes Erschrecken ein, dass das passieren konnte.                                                             

Was hat das mit den Betroffenen gemacht, dass es fast siebeneinhalb Jahre gedauert hat bis klar war, dass es ein rechtsextremer Anschlag war?

Nach wie vor sind viele der Betroffenen traumatisiert davon. Dass wir immer noch kein Mahnmal haben und dass es immer noch Diskussionen um das richtige Gedenken gibt, zeigt, dass wir das noch lange nicht gut bewältigt und aufgearbeitet haben. Viele der Betroffenen haben sich lange sehr intensiv damit beschäftigt. Viele sind sehr engagiert, gehen beispielsweise in Schulen, um dort aufzuklären. Gleichzeitig braucht es auch für diejenigen, die damals vielleicht noch Kinder waren und das in der Familie mitbekommen haben, eine Möglichkeit der Erinnerung und Aufarbeitung. Deswegen ist eine solche Gedenkstätte unglaublich wichtig.

Carolin Kirsch

Eigentlich war der Wunsch, zum 20. Jahrestag diese Gedenkstätte schon zu haben. Das haben wir in Köln leider nicht hinbekommen.

Warum dauert das so lange in Köln, dass es bislang noch kein Mahnmal gibt?

Wir sind da in Köln manchmal etwas träge in dem, wie wir das machen. Das hat auch damit zu tun, dass die Betroffenen erst mal ihre Ansprüche und die Notwendigkeit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft in Köln deutlich machen und dafür kämpfen mussten. Lange gab es Streit zwischen der Verwaltung und Initiativen, wie eine Gedenkstätte aussehen und wo sie stehen sollte. Jetzt hat man sich auf einen Standort verständigt. Wir sind sicher, da passiert bald was. Wir wissen nur nicht genau, wann, weil sich das aufgrund der aktuellen Baupreiskostenentwicklung weiter verzögert. Eigentlich war der Wunsch, zum 20. Jahrestag diese Gedenkstätte schon zu haben. Das haben wir in Köln leider nicht hinbekommen. Das ist keine besonders gute Leistung und das kann man auch nicht entschuldigen. Da hätte es viel früher die richtigen Entscheidungen geben müssen.

Was können Sie persönlich als Abgeordnete tun, um Ansprechpartnerin für Betroffene zu sein und ein Miteinander zu schaffen, dass so etwas im besten Fall nie wieder passiert?

Es gibt in unserer Gesellschaft rechtsextreme Strukturen und rechtsextremen Terrorismus. Den kann man versuchen, kleinzuhalten, den kann man versuchen zu bekämpfen, aber letztendlich kann man nie eine Garantie geben, dass das nicht wieder passiert. Was anders ist als vor 20 Jahren, ist die Bereitschaft, anzuerkennen, dass es das gibt und bei solchen Anschlägen auch gezielt in diese Richtung zu ermitteln. Als Politik müssen wir immer wieder deutlich machen, dass wir alle sehr wachsam sein müssen im Blick darauf. Ein Beispiel: Vor einigen Tagen gab es auf die Lebenshilfe Mönchengladbach, eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung, einen rechtsextremen Anschlag. Es wurde ein Stein geworfen mit einem Zettel und der Aufschrift „Euthanasie ist die Lösung“. Auch das gibt es immer stärker wieder. Daher müssen wir als Politik darauf aufmerksam machen, dass diese Gefahr groß ist. Das Bewusstsein in der Gesellschaft ist ein anderes als vor 20 Jahren. Ich hoffe sehr, dass wir aus den Fehlern der Aufarbeitung dieses Anschlags in der Politik und auch bei den Polizei- und Sicherheitsbehörden gelernt haben.

Birlikte-Festival:

Am Wochenende erinnert Köln mit einem großen Kunst- und Kulturfest an den Nagelbombenanschlag des NSU in der Keupstraße am 9. Juni 2004. „Birlikte“, auf deutsch zusammenstehen – unter diesem Motto wird an den Anschlag erinnert, aber auch zusammen gefeiert. Das Birlikte-Festival fand erstmals zum 10. Jahrestag des Anschlags 2014 statt, in diesem Jahr wird es zum insgesamt vierten Mal ausgetragen. Neben einer Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gibt es auch ein breites kulturelles und musikalisches Angebot, unter anderem in Zusammenarbeit mit Betroffeneninitiativen, aber auch dem Schauspiel Köln und der Initiative „Arsch huh“. 

Manfred Post ist Geschäftsführer des Kölner Vereins „Arsch huh“ und seit fast 60 Jahren SPD-Mitglied.
SPDings – der „vorwärts“-Podcast

SPDings – der „vorwärts“-Podcast, Folge 29 mit Manfred Post

Manfred Post engagiert sich seit Jahrzehnten gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Nun erzählt er, warum er vor fast 60 Jahren in die SPD eingetreten ist und wie viel Marx heute noch in der Partei steckt.

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Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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