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NSU-Terror in NRW: Wie viel die Behörden wirklich wussten

Der NSU-Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags hat seinen Abschlussbericht vorgelegt. Er zeigt, wie viel die Sicherheitsbehörden über die Nazi-Szene wussten. Wie lässt sich der Rechtsterrorismus in Zukunft bekämpfen?
von Paul Starzmann · 4. April 2017
Gedenken an Halit Yozgat und Mehmet Kubasik
Gedenken an Halit Yozgat und Mehmet Kubasik

An diesem Dienstag, genau auf den Tag vor 11 Jahren, wurde Mehmet Kubaşık ermordet. Wie immer stand er am Mittag des 4. April 2006 in seinem Kiosk im Nordwesten Dortmunds. Die Geschäfte liefen nicht so gut, schon länger hatte er mit dem Gedanken gespielt, den Laden zu verkaufen und sich mehr Zeit für die Familie zu nehmen. Doch dazu sollte es nie kommen. Zwei Schüsse in den Kopf beendeten sein Leben. Eine Kugel zerfetzte sein Genick, die andere blieb in der Augenhöhle stecken. Mehmet Kubaşık, 50 Jahre alt, starb alleine in einer Blutlache liegend hinter dem Tresen seines kleinen Ladens – ermordet von den Neonazis des „Nationalsozialistischen Untergrunds“.

Stigmatisierung: Polizei verdächtigt die Familien der Opfer

Bis heute bleibt vieles unklar, was diesen Fall betrifft. Etwas Licht ins Dunkel will nun der Landtag in Nordrhein-Westfalen bringen. Diese Woche legte der NSU-Untersuchungsausschuss des Landes seinen Bericht vor. Am Donnerstag wird der Landtag über das 1150 Seiten lange Dokument debattieren.

Der Bericht zeigt gravierende Fehler der Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit dem NSU auf – etwa im Mordfall Mehmet Kubaşık: Anstatt die Täter zu suchen, schickte die Polizei einen Tag nach dem Mord einen Drogenspürhund in die Wohnung des Opfers. Die Ehefrau und die Tochter des Toten, empfanden das als eine „Stigmatisierung der Familie“, heißt es in dem Bericht. Dass sich die Polizei lange auf die These der Drogenkriminalität konzentrierte, wird von den Abgeordneten als „nicht nachvollziehbar“ kritisiert.

3.500 Kilometer bis zum Tatort: Ermittlungen in der Türkei

Doch die Ermittler gingen noch weiter: Die Polizei stellte Beamte ab, um die Trauerfreier für das Opfer zu observieren. Selbst in der Türkei ließen die deutschen Behörden ermitteln. Dort – über 3.500 Kilometer vom Tatort entfernt – habe ein türkischer Verbindungsbeamte einen Tipp bekommen, heißt es im Bericht. Der kam von der Mutter des Opfers, die damals schon vermutete, hinter dem Mord an ihrem Sohn könnten Neonazis stecken. Doch die deutsche Polizei dachte, es besser zu wissen.

„Bis zum Aufdecken des NSU waren die Opfer noch in vielen Köpfen Täter“, sagt der Landtagsabgeordnete Andreas Kossiski, SPD-Obmann im Parlamentarischen Untersuchungssausschuss. Für ihn bestand die Hauptaufgabe des Gremiums darin, „so viel Öffentlichkeit wie möglich herzustellen“. Der Abschlussbericht lenkt nun die öffentliche Aufmerksamkeit auf eine Serie von Ermittlungspannen und eklatanten Fehleinschätzungen der Sicherheitsbehörden. Zugleich liefert der Bericht aber auch einen Einblick in die Neonazi-Szene in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus, die mal mehr, mal weniger im Fokus des Geheimdienstes stand.

2006: Verfassungsschutz vermutete „terroristische Strukturen“

So äußerte der Landesverfassungsschutz 2006 den Verdacht, dass die Dortmunder Nazi-Szene „terroristische Strukturen aufbaut“, wie ein Zeuge im Untersuchungsausschuss berichtete. Bereits 1998 stand im Verfassungsschutzbericht, Bombenanschläge von Neonazis seien „grundsätzlich nicht auszuschließen“. In einem Vermerk aus dem Jahr 2002 heißt es wiederum, viele Rechtsextremisten verfügten über Waffen und Sprengstoff. Kurz: Die Behörden wussten, wie gefährlich die Neonazis sind. Trotzdem kam ihnen nicht in den Sinn, dass das Bombenattentat auf die Kölner Keupstraße im Jahr 2004 von Rechtsterroristen durchgeführt wurde. Im selben Jahr habe der Rechtsterrorismus im Verfassungsschutzbericht nicht einmal Erwähnung gefunden, so der Bericht des Untersuchungsausschusses.

Damit sich die gravierenden Fehler der Behörden nicht wiederholen, will die SPD-Fraktion im nächsten Landtag eine „bessere Verzahnung zwischen Behörden und Zivilgesellschaft“ auf den Weg bringen, sagt Andreas Kossiski. Die Sozialdemokraten wollen in der kommenden Legislaturperiode diskutieren, wie sich wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Rechtsextremismus in den Behörden anwenden lassen. Extremismus und demokratiefeindliche Einstellungen sollen weiter erforscht werden – und die Ergebnisse der Untersuchungen dann in die Arbeit der Sicherheitsbehörden einfließen. Denn eines dürfe sich niemals wiederholen, sagt der SPD-Politiker Andreas Kossiski: das „Fahnungsdesaster“ im Fall des NSU.

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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