Meinung

Tag des Grundgesetz: Der 23. Mai, ein vergessener Feiertag

Am 23. Mai 1949 trat die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Dieser Tag sollte mehr gewürdigt – und gefeiert – werden. Gerade von Sozialdemokrat*innen.
von Christian Wolff · 23. Mai 2024
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben das Grundgesetz wesentlich mitgeprägt: Carlo Schmid (SPD), einer der Väter der Verfassung, unterzeichnet es am 23. Mai 1949 in Bonn.
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben das Grundgesetz wesentlich mitgeprägt: Carlo Schmid (SPD), einer der Väter der Verfassung, unterzeichnet es am 23. Mai 1949 in Bonn.

Der 23. Mai ist ein Feiertag der besonderen Art: Im Jahr 1949 trat an diesem Tag das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Leider war in den vergangenen Jahrzehnten der Geburtstag unserer Verfassung kaum einer Erwähnung wert, geschweige denn, dass das Ereignis von den Bürgerinnen und Bürgern gefeiert wurde. Selbst die SPD, am gleichen Tag in Leipzig gegründet, hat es bis jetzt nicht vermocht, die beiden bedeutenden Ereignisse miteinander zu verbinden. Leider ist Johannes Rau 1990 mit der Initiative gescheitert, den 23. Mai zum Tag der Deutschen Einheit zu erklären.

Verdienste der Sozialdemokratie

Dabei ist das Grundgesetz ohne die Geschichte der Sozialdemokratie und ihren Kampf für Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit nicht vorstellbar – ausgehend von der 1848er Revolution über die Weimarer Verfassung 1919 bis zu den Entwürfen für einen sozialen Rechtsstaat, die Sozialdemokrat*innen während der Nazizeit im Exil entwickelten. Auf Carlo Schmid geht die Präambel und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3) zurück, Elisabeth Selbert setzte mit Art. 3 Abs. 2 GG die Gleichberechtigung von Mann und Frau durch.

Mit dem Grundgesetz sollten Demokratie, Menschenrechte und Deutschland als sozialer Bundestaat fest verankert werden. Im Grundgesetz geht es nicht nur um das deutsche Volk, sondern um die Menschen, die in aller Vielfalt in Deutschland leben und die mit Deutschland das Leben auf dieser Erde teilen. In der Präambel heißt es, dass sich das deutsche Volk das Grundgesetz „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ gegeben hat.

Heinemann und die 68er

In Westdeutschland wurde durch die ’68er Bewegung die gerade 20 Jahre alte Demokratie einem notwendigen Erneuerungsprozess unterzogen. Der damalige Bundesjustizminister und spätere Bundespräsident Gustav Heinemann hielt wenige Tage nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 14. April 1968 eine unvergessene Fernsehansprache: „Unser Grundgesetz ist ein großes Angebot. Zum ersten Mal in unserer Geschichte will es in einem freiheitlich-demokratischen und sozialen Rechtsstaat der Würde des Menschen volle Geltung verschaffen. In ihm ist Platz für eine Vielfalt der Meinungen, die es in offener Diskussion zu klären gilt.“ Das gilt auch im vereinten Deutschland. Die Demokratie lebt von Beteiligung jeder und jedes Einzelnen, vom Wechselspiel der Kontroverse, des Streites und der Notwendigkeit des Kompromisses.

Demgegenüber ist die Diktatur die rechtlose Willkürherrschaft derer, die kulturelle, religiöse, politische Vielfalt mit Gewalt ausschalten und jeden Einspruch als Bedrohung unterdrücken wollen. Beteiligung beschränkt sich in der Demokratie nicht auf Wahlen. Sie beinhaltet gerechte Teilhabe an Bildung, Arbeit, Einkommen. Doch kann Demokratie nicht automatisch soziale Gerechtigkeit erzeugen. Aber ohne demokratische Entscheidungsprozesse wird es sie nicht geben.

Freiheit und Sicherheit

Alle Versuche, den Menschen jenseits von Freiheit und Demokratie bessere soziale Lebensbedingungen und Sicherheit zu versprechen (wie das rechtsnationalistische Parteien zu tun pflegen) erweisen sich als gefährliche Täuschung. Wer Freiheit der Sicherheit opfert (und damit beginnt jede autoritäre Herrschaft), spielt mit dem Feuer. Zwar benötigt die Freiheit ein gewisses Maß an Sicherheit, aber Sicherheit kommt – wie die Geschichte und Gegenwart schmerzhaft lehren – ohne Freiheit aus.

Auch darum ist die im Grundgesetz festgeschriebene parlamentarische Demokratie eine Errungenschaft, deren Wert im Zusammenhang mit der politischen Gestaltungsaufgabe (Willensbildung) der demokratischen Parteien nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Präsidialsysteme bedienen beides: autokratische Sehnsüchte zu vieler Bürger sowie den diktatorisch-absolutistischen Machtwillen einzelner. Sie höhlen auf Dauer den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, den Pluralismus aus. Der Parlamentarismus im Verein mit föderalen Strukturen schafft einen geregelten Ausgleich zwischen Kontinuität und Wechsel, verhindert die Etablierung von Machtgruppen, achtet die Minderheitsrechte und gewährleistet gesellschaftliche Vielfalt.

Ein Tag zum Feiern

Darüber hinaus ist das Grundgesetz darauf angewiesen und lebt davon, dass sich die Bürger für Demokratie, Vielfalt und ein gerechtes Miteinander einsetzen und sich diese immer neu aneignen. Wie 1968 ist Letzteres jetzt unsere Aufgabe – gerade in Ostdeutschland. Das gilt es am 23. Mai zu bedenken und zu feiern – für Sozialdemokrat*innen ein doppeltes Fest.

Dieser Artikel erschien in seiner ursprünglichen Fassung am 23. Mai 2019 auf dem Blog des Verfassers – zum 70. Tag des Grundgesetzes.

Autor*in
Christian Wolff
Christian Wolff

ist evangelischer Theologe und seit 2014 als Blogger und Berater für Kirche, Politik und Kultur tätig. Seit 1970 ist er Mitglied der SPD.

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