Meinung

Staatsziel statt Option: Warum das vereinte Europa nicht verhandelbar ist

Die AfD und andere Rechtsaußen-Parteien fordern den Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union. Das Grundgesetz setzt solchen Ideen klare Grenzen.

von Christian Wolff · 13. Mai 2024
Flaggen von Deutschland und Europa in Berlin

Betonte Gemeinsamkeit: Flaggen von Europa und Deutschland vor dem Bundesfinanzministerin in Berlin.

In der öffentlichen Debatte um die zukünftige Ausrichtung der Europapolitik wird nur selten auf die Präambel des Grundgesetzes zurückgegriffen. Das ist umso erstaunlicher, als diese Präambel von den Verfassungsvätern und – müttern zu einem Zeitpunkt formuliert wurde, als von einem vereinten Europa allerhöchstens als eine Vision gesprochen werden konnte. 

Leider ist auch aus dem öffentlichen Bewusstsein entschwunden, dass die Deutsche Einheit 1990 nur erreicht werden konnte, weil Deutschland eingebettet war in die Europäische Union. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl wies darauf hin, dass „die deutsche Einheit und die europäische Einigung … zwei Seiten einer Medaille sind". 

Das vereinte Europa war also notwendige Bedingung für eine Verständigung auf die Vereinigung der BRD und DDR in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Niemals hätten Frankreich oder England der Vereinigung der beiden deutschen Staaten unter der Bedingung eines eigenständigen Nationalstaates zugestimmt.

„Gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa"

In der Präambel des Grundgesetzes heißt es: „In dem Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

Seit 75 Jahren versteht sich die Bundesrepublik Deutschland als jenes „Glied in einem vereinten Europa“. Daran haben auch die tiefgreifenden Veränderungen in Folge der Friedlichen Revolution 1989/90 nichts geändert. Das vereinte Europa ist für die Bundesrepublik Deutschland Staatsziel und nicht eine politische Option, die jederzeit wieder einkassiert werden kann. 

Das wird auch durch das Ergebnis der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen unterstrichen. 1990 kamen die Bundesrepublik Deutschland und die DDR sowie Frankreich, die Sowjetunion, Großbritannien und die USA überein, „in Würdigung dessen, dass das deutsche Volk in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts seinen Willen bekundet hat, die staatliche Einheit Deutschlands herzustellen, um als gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". 

Europa-Gegner*innen bewegen sich auf dünnem Eis

Darum bewegen sich alle politischen Gruppierungen, die einen deutschen Nationalstaat über die europäische Einigung, über die EU stellen wollen, nicht nur auf sehr dünnem Eis. Diejenigen, die – wie die europafeindliche AfD – den Austritt der Bundesrepublik aus der EU propagieren, handeln verfassungswidrig. Das kann man nicht oft genug betonen. 

Mit ihrem ihre wahren Absichten verharmlosenden Slogan „Europa neu denken“ will die AfD darüber hinwegtäuschen, dass ihre Kandidat*innen zur Europawahl die EU mit der „Abrissbirne" beseitigen wollen. Doch dem steht Artikel 23 des Grundgesetzes entgegen: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet."

Das bedeutet: Das vereinte Europa ist als Staatsziel gesetzt. Es ist Voraussetzung und Bedingung für die Staatlichkeit Deutschlands. Das Deutschland des Grundgesetzes kann nicht gedacht werden als nationaler Einzelstaat, sondern nur im Verbund, eben als „Glied“ eines vereinten Europas. 

Hohe Hürden für einen Austritt aus der EU

Offen bleibt nur, ob sich das vereinte Europa als Staatenbund oder Bundesstaat versteht. Von der Genese des Grundgesetzes her gesehen haben die Verfassungsväter und -mütter im Blick auf ein vereintes Europa eher an einen Bundesstaat mit föderaler Struktur („Vereinigte Staaten von Europa") gedacht. 

Aber selbst wenn man eher an einen Staatenbund denkt, heißt das für die Bundesrepublik Deutschland: Auch im Staatenbund ist sie Teil des vereinten Europas. Eine Option, diesen zu verlassen, könnte es nur unter der Bedingung geben, dass der Staatenbund in Gänze die „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätze“ und die Grundrechte nicht mehr gewährleistet. 

Umgekehrt bedeutet dies: Deutschland als Teil „in einem vereinten Europa“ muss seine Rechtsordnung dem europäischen Verfassungsrecht ein- und unterordnen.

Drei Grundsätze sind entscheidend

Wenn wir heute über die Weiterentwicklung der EU diskutieren, dann gilt es drei Grundsätze zu beachten:

Erstens: Die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa ist mit dem Grundgesetz nicht nur vereinbar. Sie ist unter den Bedingungen von Art. 23 GG die bessere Option, um Europa insbesondere auf dem Gebiet der Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik handlungsfähig zu machen.

Zweitens: Eine Aufkündigung des Staatenbundes oder eines Bundesstaates ist verfassungsrechtlich ausgeschlossen.

Drittens: Eine föderale Struktur der Staatengemeinschaft im vereinten Europa ist ein Garant dafür, dass nationale und regionale Interessen ausreichend Berücksichtigung finden.

Insgesamt kann man sich im 75. Jahr des Grundgesetzes vor der Weitsicht der Verfassungsväter und -mütter nur verneigen. Sie haben mit dem in der Präambel verankerten Staatsziel die Konsequenzen aus dem kriegstreibenden und demokratiefeindlichen Nationalismus gezogen und zugleich die Voraussetzung für den europäischen Friedensprozess bis 1990 geschaffen. 

Beides gilt es für die Weiterentwicklung der Europäischen Union und für eine neue, tragfähige Friedensordnung in Europa fruchtbar werden zu lassen.

Der Text erschien zuerst im Blog des Autors.

Autor*in
Christian Wolff
Christian Wolff

ist evangelischer Theologe und seit 2014 als Blogger und Berater für Kirche, Politik und Kultur tätig. Seit 1970 ist er Mitglied der SPD.

Weitere interessante Rubriken entdecken

1 Kommentar

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Do., 16.05.2024 - 06:40

Permalink

Es sei nochmals betont: die EU ist NICHT Europa !
Aber: die Politik von dieser Frau von der Laien, samt erwürgender Bürokratie, macht es wirklich nicht leicht ein Fan DIESER EU zu sein. Die EU erscheint mir immer mehr eine NATO Vorfeldorganisation zu sein und in den 1990er Jahren erschien mir das Gemeinsame Haus Europa erstrebenswert, aber das war trotz aller Lippenbekenntnisse nicht erwünscht.