9. November 1989: Als sich das Tor zu einem neuen Deutschland öffnete
Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, war Christian Wolff tief im Westen. 1992 zog er nach Leipzig. Den Mauerfall sieht er als Neuanfang, den viel zu wenige spürten.
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9. November 1989 in Berlin: Der Mauerfall öffnete das Tor zu einem neuen Deutschland in einem vereinten Europa.
Der 9. November 1989 gehört zu den Tagen, von denen auch nach Jahrzehnten jede*r zu berichten weiß, wann, wo und in welcher Stimmungslage er oder sie ihn erlebt hat. Ich war in den Abendstunden des 9. November 1989, damals ein Donnerstag, gerade in einer Jugendherberge in der Pfalz angekommen. Ein Wochenende mit den ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter*innen der Jugendarbeit stand bevor.
Fast beiläufig fragte am Abend jemand, ob wir schon die neuesten Nachrichten kennen würden. Kannten wir natürlich nicht. Denn Smartphones mit Kurznachrichtendiensten gab es noch nicht, und bei solchen Wochenenden waren Radio oder Fernsehen verpönt. Dann berichtete jemand, was er auf der Fahrt im Autoradio gehört hatte: Die Berliner Mauer sei offen. Spät abends haben wir dann im Fernsehraum der Jugendherberge Nachrichten gesehen – und schauten staunend und fassungslos zu, wie Menschen in Berlin glücklich und beseelt über den Todesstreifen gingen.
Die Begeisterung wurde von Sorge eingegrenzt
Auch wenn wir im äußersten Westen nur Zuschauer*innen der Ereignisse waren – die Vorgänge in Berlin beherrschten unsere Gespräche und Diskussionen, zumal in den Wochen davor sich immer deutlicher abzeichnete, dass das System der DDR 40 Jahre nach ihrer Gründung in Auflösung begriffen war. Bei mir selbst verstärkte sich an dem Wochenende das Gefühl: Die Zahl 40 hat nicht von ungefähr in der Bibel eine große Bedeutung. Sie markiert im persönlichen Leben wie in der Geschichte eines Volkes einen Epochenwechsel: von der Wüstenwanderung zum„gelobten Land“. So habe ich dann auch meinen 40. Geburtstag, den ich wenige Tage später feiern konnte, erlebt: als einen Eintritt in eine neue Zeit, nicht unbedingt ins „gelobte Land“.
Doch noch stand ich dem, was sich nun am Horizont abzeichnete, sehr skeptisch gegenüber. Die Begeisterung über die neue Entwicklung wurde durch die Sorge eingegrenzt, dass alles vermieden werden muss, was zu neuem Nationalismus in Deutschland führt. Darum nahm ich auch den euphorischen Satz von Willy Brandt „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, ausgerufen am 10. November 1989, sehr zurückhaltend auf.
Mir war zum damaligen Zeitpunkt nicht klar, was zusammengehören soll. Soll die DDR so werden wie Westdeutschland? Befand sich aber die alte Bundesrepublik 1989 nicht in einer tiefgreifenden Krise? Wollten nicht die, die in der DDR aktiv daran arbeiteten, den SED-Staat in die Knie zu zwingen, für die DDR einen „dritten Weg“ entwickeln? Welches „Wieder“-Deutschland ist gemeint, wenn wir von Wiedervereinigung reden?
Eine Midlife Crisis in Gestalt der deutschen Einheit
Zu dem Zeitpunkt, da die Mauer fiel, ging es denen, die diese Entwicklung vorangetrieben hatten, zunächst um die Befreiung von einem System der Demütigung und Entmündigung. Die deutsche Einheit und damit auch das Zusammenwachsen Europas (von dem Willy Brandt auch sprach) rückte wenig später in den Mittelpunkt des Geschehens. Doch für viele Menschen im äußersten Westen der Republik und in der Generation, der ich selbst angehöre, ging nach dem 9. November 1989 das Leben erst einmal so weiter, als wäre nichts geschehen.
Der Schriftsteller Patrick Süßkind hielt all denen, die die Friedliche Revolution als fernes Ereignis empfanden, 1990 in einem SPIEGEL-Essay denselbigen vor: „Die eigentlichen Greise sind wir, wir 40-jährigen Kinder der Bundesrepublik. … Uns treffen die Erschütterungen im denkbar ungünstigsten Moment, … da wir glaubten, unsere Existenz im Griff und die Welt verstanden zu haben und wenigstens in groben Zügen zu wissen, wie der Hase läuft und wie er weiterlaufen wird ... – jetzt kommt plötzlich die Midlife Crisis in Gestalt der deutschen Einheit über uns! Auf Potenzstörungen wären wir vorbereitet gewesen, auf Prostata, Zahnersatz, Menopause, auf ein zweites Tschernobyl, auf Krebs und Tod und Teufel – bloß nicht auf ‚Deutsch-land-ei-nig-Va-ter-land‘!“
Ja, in diesen schmerzhaft entlarvenden Sätzen musste ich mich selbst entdecken – und doch sträubte sich in mir alles gegen sie. Denn zu den Greisen mochte ich nicht gehören. Ich wollte nun da leben, wo die Weichen für das gesellschaftliche Leben neu gestellt werden.
Bereitschaft zum neuerlichen Aufbruch
Als ich dann 1992 meinen Lebensmittelpunkt nach Leipzig verlegte, wurde mir klar: Der 9. November 1989 – auch im Kontext mit all den anderen Ereignissen, die mit dem 9. November verbunden sind – öffnete mit dem Mauerfall das Tor zu einem neuen Deutschland in einem vereinten Europa. Doch leider gingen viel zu wenige Menschen durch dieses Tor. Stattdessen wurde das vereinte Deutschland zu sehr und zu lange als vergrößerte Bundesrepublik West verstanden – mit der Folge mangelnder Erneuerung in allen gesellschaftlichen Bereichen und dem Festhalten an dem jeweils nun alten, überkommenen Teil-Deutschland.
Wenn wir uns heute an den Fall der Mauer erinnern, dann sollten wir in uns vor allem die Bereitschaft zum neuerlichen Aufbruch wachsen lassen: aufbrechen zu einem freiheitlichen, solidarischen, demokratischen Zusammenleben in einem Land ohne Mauern.
Christian Wolff, 1949 in Düsseldorf geboren, von 1977-1992 Gemeindepfarrer in Mannheim, danach bis 2014 Pfarrer an der Thomaskirche Leipzig. Seit 1970 Mitglied der SPD. Er lebt auch im Ruhestand weiter in Leipzig und betreibt einen Blog: www.wolff-christian.de/blog
Wolfgang Zeyen
ist evangelischer Theologe und seit 2014 als Blogger und Berater für Kirche, Politik und Kultur tätig. Seit 1970 ist er Mitglied der SPD.