Kultur

„Schwarzer Zucker, Rotes Blut“: Holocaustüberlebende entdeckt ihre Wurzeln

Jahrzehntelang wusste die Holocaustüberlebende Anna Stryshkowa kaum etwas über ihre leibliche Familie. Der engagierte Dokumentarfilm „Schwarzer Zucker, Rotes Blut“ füllt Lücken in der Erinnerung der Hochbetagten aus Kiew.

von Nils Michaelis · 22. November 2024
Schwarzer Zucker, Rotes Blut

Von Auschwitz nach Kiew: Anna Stryshkowa überlebte als Kind den Holocaust.

Als Ende Februar 2022 Russlands Großangriff auf die Ukraine beginnt, steht einer alten Frau in Kiew plötzlich das Chaos ihrer frühen Kindheit vor Augen. Im Zweiten Weltkrieg, im Alter von zweieinhalb Jahren, wurde Anna Stryshkowa von der Sowjetunion nach Auschwitz deportiert. Wie durch ein Wunder überlebt das Mädchen. Nach dem Krieg wächst es bei Adoptiveltern in der ukrainischen Sowjetrepublik auf. Sie gründet eine Familie und wird eine angesehene Ärztin und Biologin.

Sie überlebte Hitler und fürchtet sich nicht vor Putin

„Ich habe Hitler überlebt, ich werde auch Putin überleben“, sagt Anna Stryshkowa gut ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn. Es klingt wie eine Mischung aus Trotz und Zuversicht. Dabei haben die Erfahrungen im Zeichen von Krieg und Lager bei ihr traumatische Spuren hinterlassen. Und auch Lücken. Wer waren ihre leiblichen Eltern? Was ist aus ihnen geworden? Gibt es irgendwo noch Geschwister? Auf viele Fragen zu ihren Wurzeln findet Anna Stryshkowa mehr als sieben Jahrzehnte lang keine Antwort.

In seinem Dokumentarfilm „Schwarzer Zucker, Rotes Blut“ sucht Luigi Toscano nach Antworten. Und er findet auch einige. Der italienisch-deutsche Filmemacher kannte die Protagonistin bereits seit seiner Arbeit an der Fotoserie „Gegen das Vergessen“. Mehr als 500 Holocaustüberlebende hat der 52-Jährige im Rahmen des Langzeitprojekts porträtiert. Anna Stryshkowas Geschichte ließ ihn nicht mehr los. Somit entschied er sich, Licht ins Dunkle zu bringen. Und Anna Stryshkowa dabei zu helfen, ihre Identität, die Hitler ihr nehmen wollte, zu entschlüsseln.

Spurensuche in Auschwitz und Jerusalem

Der Film zeigt, wie Toscano auf Spurensuche durch Europa reist. Ausgangspunkt für die Recherche ist die Häftlingsnummer, die Anna Stryshkowa in Auschwitz auf den Arm tätowiert wurde. In einem sowjetischen Propagandafilm ist zu sehen, wie sie dem ausgemergelten Kind kurz nach der Befreiung wieder entfernt wird. Doch die Rentnerin erinnert sich an eine falsche Nummer. Luigi Toscano steht vor der Herausforderung, die wahre Ziffernfolge aufzuspüren.

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Unermüdlich widmet sich der Mannheimer Künstler seiner Puzzlearbeit. Diese führt ihn unter anderem vom Landeskriminalamt in Baden-Württemberg über das Archiv der KZ-Gedenkstätte Auschwitz bis nach Jerusalem und schließlich zurück in die Ukraine.

Sein Recherche-Trip bietet viele Rückschläge und überraschende Begegnungen. Und vor allem auch die Hoffnung darauf, dass Anna Stryshkowa irgendwann Menschen wird umarmen können, von denen sie bislang nichts gewusst hat. Wenn da nicht der von Moskau losgetretene Krieg in der Ukraine wäre.

Für Luigi Toscano steht Anna Stryshkowas Geschichte für zahllose andere Schicksale, die er dem Vergessen entreißen will. Die filmische Erzählung unterstreicht, wie sehr er sich dieser Aufgabe, oder besser: seiner Mission, hingibt. Seine Begegnungen mit der Protagonistin im ersten Jahr von Putins Invasion zeigen, wie tief bewegt der Filmemacher von all dem ist. 

Regisseur steht zu sehr im Vordergrund

Und darin liegt ein großes Problem: Luigi Toscano ist in diesem Film viel zu präsent. Viele Szenen erinnern an True-Crime-Formate: Wie ein Ermittler spaziert der Regisseur durch Behördenflure, mitunter ließ er sich sogar beim Fahrradfahren filmen. 

Somit gerät diese Geschichte einer Rekonstruktion in ein Ungleichgewicht. Bei einer Erzählung, die sich kaum auf reale Bilder stützen kann, mag es sich anbieten, auch das Erleben des Recherchierenden abzubilden. Dennoch hätte man sich gewünscht, Anna Stryshkowa und ihre Tochter Olga (von ihr stammt ein Gedicht, das dem Film seinen Namen gab) hätten mehr Raum bekommen. 

Dessen ungeachtet ist dieser engagierte und sehr persönliche Film aber durchaus sehenswert. Anhand von einem Schicksal macht „Schwarzer Zucker, Rotes Blut“ deutlich, wie verschlungen die Lebensläufe zahlloser Menschen waren, die in die Fänge des Lagerterrors und der Vernichtungsmaschinerie der Nazis geraten waren. Und welcher Aufwand dahintersteckt, diese Lebensläufe zu rekonstruieren und Leerstellen zu füllen sowie Fragen zu beantworten. Und vor allem, wie bedeutsam diese Arbeit ist.

„Schwarzer Zucker, Rotes Blut“ (Deutschland 2024), ein Film von Luigi Toscano, 90 Minuten, FSK ab 12 Jahre

Im Kino

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