Überlebender von Utøya-Attentat: „Wir haben nicht genug daraus gelernt"
Vor 13 Jahren tötete ein Rechtsextremist in Oslo und Utøya 77 Menschen. Die allermeisten von ihnen waren fast noch Kinder. Ein Überlebender kämpft seit dem Trauma gegen Rechtsextremismus.
Sandra Tenud
Gaute Børstad Skjervø hat den Anschlag von Utøya überlebt.
Als sich Gaute Børstad Skjervø ins Gespräch mit dem „vorwärts“ schaltet, ist er gerade auf dem Weg nach Oslo. Der stellvertretende Vorsitzende der norwegischen Arbeiterjugend (AUF) nimmt dort an einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Terroranschlags am 22. Juli 2011 teil. Damals tötete ein Rechtsextremer bei einem Bombenattentat im Osloer Regierungsviertel acht Personen. Anschließend begab er sich auf die Insel Utøya zu einem Ferienlager der AUF und richtete kaltblütig 69 Menschen hin, die meisten von ihnen fast noch Kinder. 33 Menschen verletzte er teils schwer. Gaute kam mit dem Leben davon.
Als der Anschlag geschah, waren Sie 16 Jahre alt. Wie sind Ihre Erinnerungen an das Ferienlager?
Die Insel Utøya gehört der norwegischen Arbeiterjugend, seit den 1950ern veranstalten wir dort Sommerlager. 2011 war mein zweites Zeltlager. Ich weiß noch, der Vortag, also der 21. Juli, war einer der schönsten Tage meines Lebens. Unserer heutige Premierminister Jonas Gahr Støre war damals Außenminister und hatte uns auf der Insel besucht. Die ganze Woche über hatte die Sonne geschienen. Ich schlief zusammen mit Freunden aus meiner Klasse im Zelt. Als wir am 22. Juli aufwachten, hatte es geregnet.
Was ist dann passiert?
An dem Tag hielt Norwegens erste Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland bei uns eine Rede. Danach meldeten die Medien eine Explosion in Oslo. Wir sahen Bilder vom Regierungsviertel, die an Krieg erinnerten. Man sagte uns, dass es dort sicher ein Gasleck gegeben habe, aber dass wir am sichersten Ort der Welt seien. Dann kam dieser Mann in Polizistenuniform auf die Insel, angeblich, um sie zu sichern. Und plötzlich sah ich, wie einige meiner Bekannten erschossen wurden.
Was war da Ihr erster Gedanke?
Ich habe nicht verstanden, was los war. Aber ich wusste: Dieser Mensch ist zum Töten zu uns gekommen. Also bin ich geflohen. Ich rannte zum Ufer der Insel und begann zu schwimmen. An der Küste vor Utøya gibt es viele Ferienhäuser. Rund 50 Boote von Urlauber*innen sind losgefahren, um fliehende Jugendliche aus dem Wasser zu ziehen. Ein Drittel von uns konnte auf diese Weise gerettet werden. Ich blieb also unverletzt, aber habe meine beiden besten Freunde verloren.
Heute sind Sie Mitglied der Extremismuskommission der Regierung. Wann haben Sie sich entschieden, sich zu engagieren?
Nach dieser traumatischen Erfahrung hat das eine Zeit lang gedauert. Zuerst ist man sehr traurig, dann verliert man das Gefühl für einen Sinn im Leben. So ging es vielen von uns. Aber viele waren auch einfach sehr wütend. So wie ich. Also entschied ich mich, meine Wut zu nutzen, um laut zu werden. Zehn Prozent von denen, die den Anschlag überlebten, sind heute nicht im Stande, zu arbeiten oder eine Ausbildung zu machen, weil sie so stark mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Nur wenige sind wie ich in die Politik gegangen. Ich denke, ich habe sehr viel Hilfe gehabt, die andere nicht hatten. Beim Prozess gegen Breivik war ich persönlich nicht anwesend, weil ich meine Kraft nicht für ihn verschwenden wollte.
Wofür setzen Sie sich ein?
Wir Überlebenden haben schnell verstanden, dass Breivik kein einsamer Wolf war. Der Anschlag war nur der erste von einer ganzen Welle in Europa. Heute sind in vielen Ländern der Welt, auch in Deutschland, rechtsextreme Kräfte erstarkt. Wir beobachten die Situation und sprechen darüber und entwickeln Strategien, wie man dagegen vorgehen kann. Mir war es auch wichtig, die Sommercamps wieder nach Utøya zu bringen. Das erste fand dort 2015 wieder statt.
13 Jahre später sitzen in vielen Ländern Parteien mit zum Teil rechtsextremen Ideen in der Regierung. Hat der Kampf gegen Breiviks Ideen versagt?
Das würde ich nicht sagen. Aber ich denke schon, dass wir nicht genug daraus gelernt haben. Norwegen hat die Tat nach 2011 zwar aufgearbeitet, allerdings haben wir noch viel zu tun. Es ist extrem wichtig, dass wir vom Scheitern der Demokratien in den 1920ern und 1930ern lernen, wie Faschismus in Europa verhindert werden kann. Rechtsextremismus ist in Norwegen immer noch ein Randphänomen. Allerdings finden rechtsextreme Ideen ihren Weg in die politische Debatte. Es gibt sehr wenige Menschen, die offen rechtsextrem sind, aber ich befürchte, dass es mit steigender sozialer Ungleichheit mehr werden.
Was bringt die Menschen davon ab, sich rechtsextremen Theorien zuzuwenden?
Als Extremismuskommission betonen wir, wie wichtig es ist, soziale Ungleichheit abzuschaffen, damit Menschen nicht so viel Hass empfinden. Hass ist der größte Feind der Politik, denn hasserfüllte Menschen werden niemals rational über Krisen und Probleme nachdenken, sondern denken zuallererst an sich. Ich denke auch, es ist wichtig, weiter mit Menschen zu reden, auch wenn sie anderer Meinung sind. So sollte auch die SPD in Deutschland auf Menschen, die für die AfD empfänglich sind, zugehen und ihnen zeigen, dass sie nicht ihr Feind ist. Demokratische Parteien sollten sich außerdem gegen die AfD zusammenschließen.
Welchen Platz hat der 22. Juli heute im norwegischen Gedächtnis?
Wir als AUF verstehen den Anschlag als Teil unserer Geschichte. In unserem 120-jährigen Bestehen wurden wir immer wieder von Rechtsextremen angriffen, allein im Zweiten Weltkrieg waren 600 unserer Mitglieder in Konzentrationslagern. Norwegen ist mit gut fünf Millionen Menschen ein kleines Land, so ziemlich jede*r hier weiß, wo er oder sie am 22. Juli 2011 gerade war. Aber inzwischen gibt es Jugendliche, die damals noch nicht lebten oder zu klein waren, um sich zu erinnern. Auch sie müssen lernen zu erkennen, welche Ideen der Treibstoff für solche Taten sind.