Neuwahlen in Frankreich: Warum Macron alle überrascht hat
Emmanuel Macron löst die Nationalversammlung auf und beraumt Neuwahlen an. Das ist das zentrale Ergebnis der Europawahl. Nicht weniger als ein politisches Erdbeben, nicht nur für Frankreich, auch für ganz Europa.
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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach der Europawahl
Seit Wochen wurde vorausgesagt, dass der ultranationale und rechtsextreme Rassemblement National die Europawahlen gewinnen werde, und zwar mehr als deutlich und wahrscheinlich doppelt so stark wie die Parteienfamilie des Präsidenten unter der weitgehend farblosen Spitzenkandidatin Valéry Hayer. Als offen galt lediglich die Frage, ob es auch den Sozialist*innen unter Raphaël Glucksmann gelingen könnte, am Macron-Lager vorbeizuziehen.
Wahlergebnis keine Überraschung
Das reale Ergebnis des Urnengangs hat ebendies bestätigt. Der RN unter Marine Le Pen und Jordan Bardella erreicht 31,4 Prozent der abgegebenen Stimmen, gewinnt haushoch und wird so stark wie nie zuvor. Die Liste der sogenannten präsidentiellen Mehrheit „Besoin d’Europe“, übersetzt: „Europa ist Notwendigkeit“, erzielte dagegen mit 14,6 Prozent nicht einmal die Hälfte des RN-Ergebnisses und landet nur ganz knapp vor Raphaël Glucksmann mit „Europa Aufwecken“, der gemeinsamen Liste mit der PS.
Das alles war, das muss deutlich unterstrichen werden, keine Überraschung. Ebenso wenig, das Bardella quasi mit der ersten Nachwahl-Prognose Neuwahlen fordern würde. Im Gegenteil, Niemand hätte anderes erwarten dürfen.
Niemand hat mit Macrons Reaktion gerechnet
Das Beben löste Emmanuel Macron ganz allein aus, als er gegen 21 Uhr vor die Kameras trat, um zu erklären, „Ich kann also am Ende dieses Tages nicht so tun, als ob nichts geschehen wäre“, um dann die sofortige Auflösung des Parlaments, der Assemblée Nationale nach Artikel 12 der Verfassung anzukündigen und Neuwahlen in nur drei Wochen auszurufen.
Am 30. Juni und am 7. Juli, also noch vor den Olympischen Spielen, werden die Französinnen und Franzosen erneut an die Urnen gerufen. Und damit hatte wirklich niemand gerechnet, auch nicht rechnen können. Dieses schlechte, ja desaströse Ergebnis war längst eingepreist. Dass Macron so reagieren würde hatten – wenn denn überhaupt – nur die allerengsten Berater auf dem Schirm.
Macrons wichtigstes Ziel: Le Pen verhindern
Er habe entschieden, den Franzosen „die Entscheidung über unsere parlamentarische Zukunft durch die Wahl zu überlassen“, erklärte Macron zu allseitigem Erstaunen. „Diese Entscheidung ist ernst und schwer, aber sie ist vor allem ein Akt des Vertrauens.“, fuhr er fort. „Ich, der ich immer daran geglaubt habe, dass ein geeintes, starkes und unabhängiges Europa gut ist für Frankreich, kann mich mit dem Wahlergebnis nicht abfinden“, so der französische Präsident. Der Aufstieg der Nationalist*innen, der Demagog*innen, sei eine Gefahr für Frankreich, aber auch für Europa. Deshalb müsse nun auch der Souverän entscheiden.
Wohl das wichtigste politische Ziel von Emmanuel Macron ist seit seiner ersten Kandidatur für das Präsidentenamt 2017 die Verhinderung von Marine Le Pen als Präsidentin der Fünften Republik. Er wollte und will in die Geschichtsbücher eingehen als der Mann, der den Aufstieg der Rechtsextremen gestoppt hat, und das möglichst endgültig. Schon länger war fraglich, ob ihm das gelingen würde, aber nun könnte er gar zu ihrem Steigbügelhalter werden.
Entscheidungsschlacht um Frankreichs Zukunft
Macron ruft, wenn man seinen Worten genau zuhört, zu einer Art Entscheidungsschlacht unter der Fragestellung: Will Frankreich wirklich eine rechtsradikale Präsidentin? Pokerspieler*innen würden sagen: Er geht all-in. Pokerspieler*innen wissen aber auch, das macht, wem keine andere Option mehr bleibt. Die letzte Chance, alles auf diese eine Karte.
Schon bisher ist Macron mit seiner Strategie weitgehend gescheitert, immer das Duell mit Le Pen und ihrer Partei zu suchen und sich selbst dabei als den einzigen Garanten gegen rechtsaußen zu präsentieren. Abgesehen von seiner prinzipiellen Haltung, Europa und die EU müsse im Zentrum aller Politik stehen, gerade auch um nationale Bedeutung beibehalten zu können, ist viel politischer Inhalt hinter dieser Strategie zurückgeblieben. Genauer, die Politik des einstigen Hoffnungsträgers ist im Lauf der Zeit immer weiter nach rechts gerückt. Viele liberale und fortschrittlichen Ideen sind hinten runtergefallen.
Macrons Anhänger*innen sind enttäuscht und weg
Macrons Versprechen, einen neuen Aufbruch zu wagen hatte ihm 2017 große Mengen von Anhänger*innen eingebracht, die an diese Chance glaubten. Allein, die sind enttäuscht und weg. Macron hat keinerlei Parteibasis im Land und so sind seine Ergebnisse mit jeder Wahl schlechter geworden. Und weil Rechte wie Linke auf ihn und seine Politik eindroschen – zum Teil mit identischen Argumenten – tendiert zudem seine Beliebtheit gegen Null.
Woher er also die Zuversicht nimmt, in drei Wochen nicht nur ein besseres, sondern fundamental anderes Ergebnis erzielen zu können, bleibt bislang sein Geheimnis. Was er jetzt macht ist der Versuch, alle anderen „auf Linie zu zwingen“, nach dem Motto: Gegen die Radikalen und Europagegner*innen müssen alle republikanisch gesinnten Kräfte zusammenstehen.
Ein Desaster für Europa droht
Es wäre ein Desaster für ganz Europa, würde nach Italien und den Niederlanden mit Frankreich der dritte der sechs EU-Gründungsstaaten von einer, zurückhaltend formuliert europaskeptischen Partei regiert. Den Willen, sich dem entgegenzustemmen, kann man Macron kaum absprechen. Die Mittel, die er dafür wählt, sind aber fragwürdig.
Am Morgen nach der Wahl besuchte Macron Tulle en Corrèze und Oradour-sur-Glane, zwei Orte im Südwesten des Landes, in denen die SS 1944 jeweils hunderte Zivilist*innen ermordete. Die Bilder aus Tulle zeigen einen Präsidenten Macron neben seinem sozialistischen Vorgänger Francois Hollande und neben Claude Chirac, Tochter und engste Beraterin des konservativen Präsidenten Jacque Chirac. In Oradour wird Macron dann am Mittag erneut neben Frank-Walter Steinmeier stehen. Es scheint, als wolle Macron mit diesen Bildern die Nation beschwören, sich zur erinnern, was der Wesenskern Frankreichs sei: Humanismus und Widerstand gegen rechts.
Ob das reichen wird? Längst reklamiert der RN selbst die Resistance für sich, ohne jedwede Berührungsangst.