Rekordwert: So viele Menschen wie nie von Diskriminierung betroffen
Die Anfragen an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes steigen auf ein Rekordhoch. Die Bundesbeauftragte Ferda Ataman warnt die Bundesregierung vor einem „historischen Fehler".
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Ferda Ataman, die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, warnt: „Die Hemmschwellen scheinen zu fallen. Diskriminierungen finden seltener hinter vorgehaltener Hand statt.“
Die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes Ferda Ataman kam am Dienstag in Berlin vor der Presse gleich zur Sache. Die Beratungsanfragen an die Antidiskriminierungsstelle hätten mit rund 10.800 im Jahr 2023 einen „Rekordwert“ erreicht. „Noch nie zuvor haben sich so viele Menschen wegen Diskriminierung an uns gewandt“, berichtete Atman. „Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Anstieg um 22 Prozent. In den vergangenen fünf Jahren haben sich die Fälle sogar mehr als verdoppelt.“ Sie beschrieb einen alarmierenden Trend: Mehr Menschen als je zuvor bekämen die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung und Radikalisierung unmittelbar zu spüren.
Zugleich diagnostizierte sie auch eine qualitative Veränderung im Verlauf der letzten Jahre: „Menschen erleben Rassismus und Antisemitismus, Queerfeindlichkeit, Verachtung für Menschen mit Behinderungen, Herabwürdigungen von Frauen und andere Diskriminierungen offener, direkter und härter.“ Ataman weiter: „Die Hemmschwellen scheinen zu fallen. Diskriminierungen finden seltener hinter vorgehaltener Hand statt.“ Die Lage sei ernst. „Ausländer-Raus"-Stimmung und Menschenverachtung seien heutzutage normal geworden – und das nicht nur beim Feiern auf Sylt oder auf Volksfesten. Migrant*innen, Menschen mit Behinderungen und queere Menschen erlebten sie ganz konkret in ihrem Alltag und das „knallhart“.
Ataman: Diskriminierte werden „von der Politik allein gelassen“
Für die Bundesbeauftragte ist Diskriminierung jedoch nicht nur ein Problem der direkt Betroffenen, die sie erleben und oft auch erleiden müssen. Diskriminierung gefährde die Demokratie und den Rechtsstaat als Ganzes, so Ataman. Wer die Demokratie schützen wolle, müsse Menschen besser vor Diskriminierung schützen. Viele von Diskriminierung Betroffene fühlten sich jedoch „von der Politik allein gelassen“.
Deswegen forderte Ataman die Bundesregierung nachdrücklich auf, die im Koalitionsvertrag der Ampel versprochene Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) rasch anzugehen, um Schutzlücken zu schließen. „Es ist höchste Zeit, dass die angekündigte Reform jetzt kommt.“ Das AGG regelt die Rechte von Personen, die Diskriminierung zum Beispiel am Arbeitsplatz erfahren haben. Das Gesetz aus dem Jahr 2006 sei „veraltet und hilft in vielen Fällen nicht, wenn Menschen schlimmste Diskriminierung erfahren“, sagte Ataman. Die meisten europäischen Staaten hätten mittlerweile „ein weitaus stärkeres Antidiskriminierungsrecht“ als Deutschland.
Bundesbeauftragte sieht großen Handlungsdruck
Um an die Reform zu erinnern, so die Bundesbeauftragte, habe sie vor einem Jahr konkrete Vorschläge gemacht. „Dazu haben sich die Bundesregierung und der zuständige federführende Justizminister bis heute nicht positioniert“, kritisierte sie. Stattdessen werde die Reform immer wieder verschoben. Ataman warnte vor einer „Diskriminierungskrise, die nicht weggeleugnet werden kann“. Heute sei der Handlungsdruck so groß wie nie seit der Einführung des AGG.
Geschehe das nicht, sei das nicht nur ein Bruch des Koalitionsvertrages der Ampel-Parteien, sondern ein Bruch des Gesellschaftsvertrages, der gleiche Rechte für alle vorsehe, wie es in Artikel 3 des Grundgesetzes festgelegt sei. Wenn die Bundesregierung die Reform nicht angehe, „begeht sie einen historischen Fehler“, so Ataman.
Schutz vor Diskriminierung soll bekannter werden
Die Antidiskriminierungsbeauftrage kündigte an, den Schutz vor Diskriminierung durch umfassende Informationsangebote bekannter zu machen. Dazu soll das bundesweite Förderprogramm „respekt*land“ zum Aufbau flächendeckender Antidiskriminierungsberatung fortgeführt werden. Die bundesweit Ende 2023 gestartete und preisgekrönte Kampagne „Habichwasgegen“, die über Rechte Diskriminierter informiert, werde ebenso fortgesetzt. Außerdem will Ataman Anfang Juli mehrere respekt*land-Projekte in Ostdeutschland besuchen und mit den Menschen sprechen, die sich für eine vielfältige, demokratische Gesellschaft engagieren.
Die meisten Anfragen mit rund 3.400 erreichten die Antidiskriminierungsstelle zu rassistischer Diskriminierung. Diese Fälle machen etwa 41 Prozent aller Anfragen aus. An nächster Stelle folgen mit knapp über 2.000 Anfragen Diskriminierungen wegen „Behinderungen und chronische Krankheiten“, das entspricht 25 Prozent. Diskriminierungserfahrungen wegen des Geschlechts oder der Geschlechtsidentität liegen etwas darunter. Die Beratungsanfragen zu allen anderen Diskriminierungsgründen haben 2023 ebenfalls zugenommen. So gab es zum Merkmal Alter mehr als 1.100 Anfragen, das entspricht 14 Prozent, zu Religion und Weltanschauung mehr als 600, das sind sieben Prozent und zur sexuellen Identität rund 300 Anfragen, das entspricht vier Prozent.
Lücken im Antidiskriminierunsgesetz schließen
Von den 10.772 Beratungsanfragen betrafen 8.303 mindestens eins der sechs im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geschützten Diskriminierungsmerkmale. Der größte Teil der geschilderten Fälle fand im Arbeitsleben statt. Mit mehr als 2.600 Fällen betraf dies ein Drittel aller Fälle.
Diskriminierungserfahrungen durch Ämter und Behörden sowie durch Polizei und Justiz machten fast ein Fünftel aller Beratungsanfragen aus, fallen jedoch nicht unter den Diskriminierungsschutz des AGG. Dies ist eine der Schutzlücken, die Ferda Ataman durch eine Gesetzesreform schließen möchte. Ein Gesetzentwurf liegt dazu jedoch bisher nicht vor.