Inland

Politikwissenschaftlerin Reuschenbach: Warum wir besser streiten müssen

Die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach warnt vor einer weiteren Polarisierung der politischen Debatte. Ansonsten würden notwendige Kompromisse unmöglich. Das nutze am Ende nur den Populist*innen.

von Kai Doering · 13. November 2024
Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach: Polarisierung an sich ist ja nichts Schlechtes.

Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach: Polarisierung an sich ist ja nichts Schlechtes.

In Ihrem Buch „Defekte Debatten“ fordern Sie, die Gesellschaft müsse wieder besser streiten. Wie kommen wir heraus aus der Polarisierungsspirale?

Polarisierung an sich ist ja gar nichts Schlechtes. Sie kann zu einer stärkeren Sichtbarkeit von unterschiedlichen programmatischen Angeboten und zu Differenzierungen führen, was auch den Wählerinnen und Wählern hilft, weil dadurch die Unterschiede zwischen den politischen Akteuren stärker hervortreten. Ein Problem ist dagegen die affektive Polarisierung, die in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, gerade durch Parteien wie die AfD, die keinerlei Interesse am konstruktiven Streit hat. Dabei geht es dann gar nicht mehr um die Sache an sich, sondern nur noch um Feindbilder. Und das ist einer der großen Defekte unserer Debattenkultur. Der Appell meines Co-Autors Korbinian Frenzel und mir ist deshalb, zu inhaltlichen Diskussionen zurückzukehren, damit der Grad von affektiver Polarisierung wieder abnimmt und es möglich bleibt, in der politischen Mitte durchaus hart, aber im Kern sachlich miteinander zu diskutieren.

Sie sehen also die etablierten Parteien sind in der Verantwortung?

Ja, absolut. Die Parteien der Mitte müssen endlich belastbare politische Lösungen anbieten, die keine Symbolpolitik sind, Stichwort Abschiebeflüge nach Afghanistan. Alles andere leistet der weiteren Polarisierung Vorschub, weil der Eindruck entsteht, die Parteien der Mitte hätten den eigenen Kompass verloren und würden den Populisten hinterherlaufen, statt eigene Antworten auf politische Herausforderungen zu geben. Wie es nicht laufen sollte, konnten wir bei den ostdeutschen Landtagswahlen sehen. In den Wahlkämpfen ging es fast nur um Migration, dazu in einer Tonalität und Sprache, die der der AfD sehr nahekam und am Ende in Wählerstimmen vor allem bei ihr eingezahlt hat.

Julia
Reuschenbach

Wir haben es als Gesellschaft verlernt, Ambivalenzen und Zweifel auszuhalten.

Was bedeutet diese Entwicklung für die Gesellschaft?

Wir glauben, es gibt ein deutlich stärkeres Sortierbedürfnis in der Gesellschaft. Eine Ursache ist, dass kollektive Akteure wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen im Laufe der Zeit an Bedeutung und damit auch an Einfluss verloren haben. Die Menschen sind mobiler und leben individualisierter, doch es fehlt ihnen an Institutionen, an denen sie sich orientieren können. In Debatten führt das zum Teil zu absurden Situationen, in denen ein Bekenntnis für oder gegen eine bestimmte Meinung regelrecht eingefordert wird. Wir haben es als Gesellschaft verlernt, Ambivalenzen und Zweifel auszuhalten und daraus nicht gleich, und zwar egal in welche politische Richtung, die Erzählung zu machen, dass jemand seinen Kompass verloren hat, nur weil er sich nicht klar bekennt. Das macht Kompromisse und gegenseitiges Verständnis nahezu unmöglich. Für die Gesellschaft ist das ein Riesenproblem.

Das Ergebnis der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg sehen viele als Zäsur. Wie groß ist der Einschnitt ins politische System?

Die Wahlen sind in jedem Fall ein Einschnitt, und zwar nicht nur, weil in Thüringen erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik mit der AfD der rechtsextreme Landesverband einer Partei die meisten Stimmen erhalten hat. Ebenso bemerkenswert ist, dass mit dem BSW eine Partei, die es Anfang des Jahres noch gar nicht gab, in allen drei Ländern ein zweistelliges Ergebnis eingefahren hat und damit nun ein elementarer Machtfaktor für die Regierungsbildung ist. Als drittes kommt hinzu, dass mit AfD und BSW erstmals zwei populistische Parteien zusammen auf mehr als 50 Prozent der Stimmen kommen.

Worauf führen Sie den Erfolg der AfD bei diesen Landtagswahlen zurück?

Dabei spielt die Unzufriedenheit mit der Ampel sicher eine große Rolle. Dabei muss man allerdings die Logiken von Populismus verstehen. Ein zentraler Faktor ist eine Anti-Establishment-Haltung. Ging es 2019 gegen Angela Merkel, geht es jetzt eben gegen die Ampel, zum Teil mit sehr ähnlichen Parolen. Das Feindbild wird einfach ausgetauscht. Ansonsten bleibt alles beim Alten. Leider wird das von den etablierten Parteien noch zu wenig gesehen. Hinzukommt ein Gefühl von Wut, davon mit eigenen Themen und Sorgen nicht gesehen zu werden. Wir haben bei der US-Wahl beobachten können, wie Menschen dies an der Urne zur Geltung bringen. Hier wurden von den Demokraten die „Brot&Butter“-Themen zu wenig adressiert, was Populisten wie Trump die Tür öffnet mit einfachen Lösungen auf komplexe Probleme antworten zu wollen. Und wir haben bei der AfD auch einen gewachsenen Anteil in der Wählerschaft, der die Partei aus Überzeugung für das wählt, was in ihren Reihen gesagt und vertreten wird.

Julia
Reuschenbach

Alles hätte man zwar nicht abwenden können, aber doch einige Unwägbarkeiten, die es nun gibt.

Sehen Sie im Auftreten Unterschiede zwischen den beiden populistischen Parteien AfD und BSW?

Ja, die gibt es. Beide nutzen zwar ähnliche Chiffren im Sinne von „die da oben“, aber beim Auftreten des BSW spielt die „Volkszentriertheit“ nicht so eine große Rolle wie bei der AfD. Das bedeutet nicht, dass sie für das BSW keine Rolle spielt, aber sie liest sich subtiler. Während die Anti-Establishment-Haltung bei der AfD völkisch aufgeladen ist, bezieht sich das BSW vor allem auf „die Vernunft“. Den Erfolg der beiden Parteien allein mit ihrem Populismus zu begründen, greift aber zu kurz. Das BSW hat es geschafft, die Frage von Krieg und Frieden für sich zu nutzen. Da hat es ein gewisses Alleinstellungsmerkmal gegenüber den anderen Parteien erlangt und den vor allem in Ostdeutschland anschlussfähigen Antiamerikanismus angesprochen. Dem BSW gelingt es zudem, eine wirtschaftspolitisch eher linke Ausrichtung mit einer gesellschaftspolitisch-kulturell eher rechten, in Teilen auch rechtsautoritären Ausrichtung zu kombinieren. 

Politisch besonders herausfordernd ist die Situation in Thüringen, wo selbst ein Bündnis aus CDU, BSW und SPD keine eigene Mehrheit hätte, die AfD zudem über eine Sperrminorität im Landtag verfügt. Ist das Land überhaupt noch regierbar?

Dieser Frage ist sehr schwer zu beantworten. Es war ein großes Versäumnis der rot-rot-grünen Regierung unter Bodo Ramelow und der sie tolerierenden CDU-Fraktion, dass sie nicht vor der Wahl die entscheidenden Weichen gestellt haben, eine Situation wie die jetzige zu verhindern. Alles hätte man zwar nicht abwenden können, aber doch einige Unwägbarkeiten, die es nun gibt. Die Vorgänge rund um die konstitutierende Sitzung des Landtages haben das verdeutlicht. Im Grunde hat sich die Situation aus der Zeit zwischen 2019 und 2024 ja umgekehrt: Damals wurde eine von der Linken geführte Landesregierung mehr oder weniger von der CDU toleriert, nun wird vermutlich die Linke oder Teile von ihr eine CDU-geführte Regierung tolerieren. Allerdings sitzt mit dem BSW womöglich eine Partei mit am Kabinettstisch, die für alle eine „Black Box“ ist. Das macht es nicht unbedingt einfacher. Das Geplänkel zwischen Sahra Wagenknecht und Katja Wolf ist da sicher nur ein kleiner Vorgeschmack. Das verstärkt die bestehende Instabilität einer möglichen Regierung zusätzlich.

Julia
Reuschenbach

Dass eine Partei, die eine Wahl gewonnen hat, nicht automatisch regiert, ist in Deutschland seit Jahrzehnten Usus.

Wie erklären Sie sich das starke Abschneider der AfD gerade bei jungen Wähler*innen?

Das ist für mich unter anderem ein Ausdruck dafür, dass eine Generation nachkommt, die natürlich auch vom Wahlverhalten der Eltern geprägt wird, die aber vor allem groß geworden ist in einem Ostdeutschland, in dem die AfD eine Partei wie jede andere ist. Wer heute 20 oder 25 ist, für den gehört die AfD von Anfang an zum Parteienspektrum dazu. Die AfD hat auch geschafft, woran die anderen Parteien in Ostdeutschland bisher gescheitert sind: eine Mitgliederpartei zu sein und eine Parteienbindung zu schaffen. Die Mitgliederzahlen der AfD sind in Ostdeutschland etwa dreimal so hoch wie in Westdeutschland, obwohl die Bevölkerung hier deutlich geringer ist als im Westen. Je nachdem, wie die Entwicklung weitergeht, könnte sich die AfD jedoch auch im Westen deutlich stärker etablieren, was ich für das BSW eher nicht annehme.

Wieso nicht?

Der Kurs, der das BSW jetzt bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland erfolgreich gemacht hat – Anti-Amerikanismus, eine ablehnende Haltung zur NATO – verfängt aus meiner Sicht im Westen deutlich weniger. Spannender ist die Frage, ob man im Bundestagswahlkampf 2025 versuchen wird stärker sozial- und wirtschaftspolitische Themen anzusprechen und damit im Westen zu punkten.

In Thüringen ist die AfD die stärkste Partei geworden, in Sachsen und Brandenburg auf dem zweiten Platz gelandet. Trotzdem wird sie an keiner Regierung beteiligt werden, weshalb der Vorwurf im Raum steht, der Wähler*innenwille würde ignoriert. Wie bewerten Sie das?

Das ist eine Erzählung, die die AfD gerne spinnt und bei Teilen ihrer Anhänger*innen und in der verschwörungsideologischen Szene rund um die AfD scheint sie auch gut zu verfangen. Inhaltlich ist da aber überhaupt nicht dran. Es werden keine Stimme ignoriert, niemand wird übergangen. Die AfD hat in den Landtagen von Sachsen, Thüringen und Brandenburg jeweils um die 30 Prozent der Stimmen erhalten. Damit wird sie äußerst wirkmächtige Oppositionsfraktionen haben, in Thüringen überdies ausgestattet mit einer verfassungsrelevanten Sperrminorität. Da kann niemand sagen, dass diese Stimmen nicht sichtbar wären. Und dass eine Partei, die eine Wahl gewonnen hat, nicht automatisch regiert, ist in Deutschland seit Jahrzehnten Usus. Da hat die AfD keinen Sonderstatus, auch wenn sie diesen Eindruck gern erwecken will. Die anderen Parteien haben jedes Recht der Welt, eine Zusammenarbeit mit der AfD abzulehnen.

Julia Reuschenbach, Korbinian Frenzel: Defekte Debatten. Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen, Suhrkamp 2024, ISBN 978-3-518-47438-9

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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