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DGB-Chefin Yasmin Fahimi: „Wer die AfD wählt, wählt seine eigenen Rechte ab“

Der DGB mobilisiert zum 1. Mai für mehr Lohn, Freizeit und soziale Sicherheit. Vorsitzende Yasmin Fahimi erklärt im Interview, warum die Europawahl wichtig für gute Arbeit ist und die AfD Feind der Beschäftigten bleibt. 

von Vera Rosigkeit und Finn Lyko · 29. April 2024
Fahimi

Seit 2022 ist Yasmin Fahimi Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)

Was hat es mit dem Motto des DGB „mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit“ zum 1. Mai auf sich? 

Mit dem Motto wollen wir unterstreichen, wofür wir stehen: Mehr Lohn, geregelte Arbeitszeiten, Sicherheit am Arbeitsplatz und Zukunftsperspektiven werden durch die Interessensvertretung im Betrieb, aber eben auch durch unsere Tarifverträge sichergestellt. Diesen Schutz wünschen wir uns als Standard für alle Beschäftigten. Das ist unser gesellschaftspolitischer Auftrag, der einerseits durch Artikel neun des Grundgesetzes, andererseits durch das Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsgesetz entsprechend abgesichert ist. Wir wollen das Bewusstsein der Beschäftigten schärfen, dass auch sie sich durch die Organisation in einer Gewerkschaft für ihre Rechte einsetzen können. Das ist für uns auch eine Frage der Mobilisierung.

Welche Erwartungen haben Sie an die Politik?

Mit Blick auf die inzwischen seit zweieinhalb Dekaden sinkende Tarifbindung in Deutschland sind aus unserer Sicht klare politische Signale notwendig. Die Rahmenbedingungen für mehr Tarifbindung müssen gestärkt werden – wir erwarten daher, dass das von der Bundesregierung angekündigte Bundestariftreuegesetz schnellstmöglich kommt. Ich bin optimistisch, dass es Hubertus Heil als Arbeits- und Sozialminister jetzt gelingt, das Gesetz durch das Kabinett zu bringen. Die ganz große Trendwende versprechen wir uns davon zwar nicht, aber der Staat muss endlich ein klares Signal senden, dass mit öffentlichen Geldern keine Geschäftsmodelle finanziert werden, die sich nicht an Mindeststandards halten.

Yasmin Fahimi

Deswegen sollten konsequenterweise Wirtschaftsförderung und -hilfen auch nur dahinfließen, wo Standorttreue zugesagt wird

Reichen die Regelungen des geplanten Bundestariftreuegesetzes aus, um die Tarifbindung in Deutschland zu erhöhen?

Um tatsächliche eine Tarifwende zu schaffen, wird das geplante Bundestariftreuegesetz nicht reichen. Aber überall dort, wo der Staat Geld in die Hand nimmt, muss er seiner eigenen Vorgabe gerecht werden: Unsere Wirtschaftsordnung basiert auf der Funktionsfähigkeit des Tarifsystems. Deswegen sollten konsequenterweise Wirtschaftsförderung und -hilfen auch nur dahinfließen, wo Standorttreue zugesagt wird. Und die einfachste Form einer vertrauensvollen Zusage dieser Art sind Tarifbindung und Standortvereinbarungen mit den Gewerkschaften – im Übrigen auch für den Staat ausgesprochen unbürokratisch. 

Eine weitere Maßnahme ginge dann von den Beschäftigten selbst aus?

Genau, von den Beschäftigten selbst, die wir ermutigen wollen, sich zu organisieren und Tarifverträge zu erstreiten. Vor allem aber von den Arbeitgebern, die endlich ihre Tarifflucht beenden müssen. Und von den Arbeitgeberverbänden, die die Mitgliedschaften ohne Tarifbindung in ihren eigenen Reihen nicht länger akzeptieren dürfen.

Yasmin Fahimi

Die gewerkschaftliche Gestaltung der Arbeitszeit denkt von den Bedürfnissen der Beschäftigten aus, die nicht immer gleich sind

Die 35-Stunden-Woche und die Vier-Tage-Woche werden immer beliebter. Teilweise sind die bereits Bestandteil von Tarifvereinbarungen. Wie stehen Sie dazu?

Ich habe eine dringende Bitte an alle politischen Akteure: Die öffentlichen und allgemeinen Arbeitszeitdebatten müssen beendet werden. Arbeitszeit ist ein Kerngeschäft von Tarifverträgen. Was dort verabredet wird, ist geprägt von der Branchenrealität und nicht von einem politischen Gefühl. Handelt es sich um eine Branche, in der es Schichtarbeit gibt? Ist es eine Branche, die vielleicht gerade die nächste Rationalisierungsphase vor sich hat, und wo das Hauptziel ist, Arbeitsplätze zu sichern? Geht es um Branchen, in denen es besonders hohe Belastungen gibt? Das alles ist tarifpolitisches Hoheitsgebiet. Die gewerkschaftliche Gestaltung der Arbeitszeit denkt von den Bedürfnissen der Beschäftigten aus, die nicht immer gleich sind, und von den jeweiligen Branchen- und Betriebsrealitäten. Natürlich macht es Sinn, in vielen Fällen über Arbeitszeitverkürzungen zu reden. Aber bitte nicht als neues „Normalarbeitszeitverhältnis“.

Wo zum Beispiel?

In einigen Branchen, wie etwa in der Pflege, sind die Überlastungen so groß, dass sich Beschäftigte in Teilzeitarbeit flüchten. Da macht es Sinn, eine geregelte, verkürzte Arbeitszeit zu haben, damit die wichtige Arbeit für möglichst viele attraktiv bleibt. Die Entlastungstarifverträge von verdi an den Uni-Kliniken machen für viele die Arbeit in den Kliniken wieder attraktiv. Die Stahlindustrie hat die Vier-Tage-Woche wiederum deswegen diskutiert, weil absehbar ist, dass mit der Transformation in der Stahlindustrie zukünftig gegebenenfalls weniger Arbeitskräfte gebraucht werden. Da geht es um eine solidarische Arbeitszeitverteilung. Wie gesagt: Diese Debatte ist sehr differenziert zu betrachten.

Modellprojekte, wie sie derzeit laufen, schaden aber nicht, oder?

Natürlich – wir initiieren solche Projekte ja zum Teil auch selbst und begleiten sie mit Studien. Die Wahrheit ist: Es gibt in Deutschland tausende verschiedene Arbeitsmodelle – uns muss also niemand erklären, wie die Flexibilisierung von Arbeitszeit funktioniert. Auf der anderen Seite halte ich es aber für brandgefährlich, wenn darüber einfach mal allgemein philosophiert wird: Da kommen die einen dann mit der Vier-Tage-Woche, die anderen mit steuer- und beitragsfreien Überstunden. Das ist ein Reinpfuschen in die Tarifautonomie, das wir nicht gebrauchen können. Die Politik kann uns gerne Anregungen geben, aber entschieden werden muss das zwischen den Tarifvertragsparteien.

Yasmin Fahimi

Die AfD ist und bleibt ein Feind der Beschäftigten dieses Landes, in jeglicher Hinsicht.

Nun ist der DGB nicht nur auf der Arbeitsebene tätig, sondern auch gesellschaftlich. In diesem Jahr stehen entscheidende Wahlen an. Wie engagieren sich die Gewerkschaften bei den Europawahlen? 

Auch Europa ist unerlässlich für Arbeits- und Sozialstandards – das haben wir ja gerade in den letzten Wochen gesehen: Glücklicherweise hat die Europäische Union die Richtlinie zur Plattformökonomie noch vor der Wahl unter Dach und Fach gebracht, ebenso die KI-Verordnung, eine Verordnung gegen Zwangsarbeit, und natürlich das Lieferkettengesetz. Das sind sehr wichtige Entscheidungen gewesen, die dafür sorgen, dass Arbeitsstandards in der Europäischen Union nicht einfach nach unten gedrückt werden können. 

Das werden wir auch in unserer Europakampagne deutlich machen: Gute Arbeit – besser mit Europa. Die Fantasie, man müsse wieder souveränere Nationalstaaten schaffen, ist vollkommen irrsinnig. Das würde gerade für ein Exportland wie Deutschland nicht zuletzt einen enormen volkswirtschaftlichem Schaden bedeuten. Extremistische Parteien, die das Land abschotten wollen, und sich gegen unsere nationalen Arbeits- und Gewerkschaftsrechte stellen, sind im höchsten Maß arbeitnehmerfeindlich. Wir werden sehr deutlich machen: Die AfD ist und bleibt ein Feind der Beschäftigten dieses Landes, in jeglicher Hinsicht.

In drei ostdeutschen Bundesländern wird in diesem Jahr ein neuer Landtag gewählt. Wie ist die Arbeit für die Gewerkschaften vor Ort?

Es gibt aufgrund der Geschichte in den ostdeutschen Ländern eine andere Erfahrung mit Gewerkschaften. Wir müssen immer wieder beweisen und erklären, dass Gewerkschaften nicht irgendein Funktionärsapparat sind, der den Beschäftigten etwas vorschreibt, sondern eine Organisation zur Selbstermächtigung in der Arbeit. Gerade in den vergangenen Jahren sind uns auch in Ostdeutschland zahlreiche Erfolge gelungen. Auch die teils großen Lohnunterschiede zum Westen werden nicht mehr einfach so akzeptiert. 

Da ist ein neues Selbstbewusstsein entstanden – das ist gut so! Das heißt aber nicht unbedingt, dass deshalb unsere gesellschaftspolitischen Werte sofort eins-zu-eins übernommen werden. Unser Fokus ist, den Leuten zu zeigen, wer wofür steht. Wenn man sich das genauer anschaut, merkt man: Wer die AfD wählt, wählt seine eigenen Rechte ab.

In den vergangenen Wochen wurde oft diskutiert, wieviel Sozialstaat sich Deutschland leisten kann, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Schuldenbremse. Wie erleben Sie diese Debatte?                                                       

Ich habe Sorge, dass die zugespitzte Debatte um den Sozialstaat unsere Gesellschaft auseinandertreibt. Sozialstaat heißt zunächst einmal Schutz der Bevölkerung vor existenziellen Bedrohungen, aber auch eine gemeinsame solidarische Absicherung vor individuellen Risiken. Nichts anderes tun unsere Sozialsysteme. Sie schützen die Menschen im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit, und so weiter. Und das gerät gerade unter Beschuss, indem man so tut, als ob das alles nicht mehr leistbar wäre – was kompletter Unsinn ist. Ich erwarte von einem aktiven Sozialstaat, dass er Angebote für möglichst viel Chancengerechtigkeit schafft – also aktiv dafür Vorsorge leistet, dass Menschen gut und stabil ins Erwerbsleben kommen, um sich eine wirtschaftliche Selbstständigkeit aufzubauen. 

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