Geschichte

Misstrauensvotum: Als Hunderttausende für Willy Brandt demonstrierten

Als sich Willy Brandt am 27. April 1972 einem Misstrauensvotum im Bundestag stellen musste, bekam er unerwartete Unterstützung. Hunderttausende gingen für den Kanzler auf die Straße. Ihnen ging es auch um die Fortsetzung der Ostpolitik.
von Bernd Rother · 26. April 2022
Große Unterstützung für Willy Brandt und die neue Ostpolitik: Im April 1972 gingen Hunderttausende spontan auf die Straße.
Große Unterstützung für Willy Brandt und die neue Ostpolitik: Im April 1972 gingen Hunderttausende spontan auf die Straße.

„Von den 260 stimmberechtigten Abgeordneten haben für den Antrag – mit Ja – gestimmt 247. (…) Die absolute Mehrheit der stimmberechtigten Abgeordneten beträgt, wie Sie wissen, 249 Stimmen. Ich stelle fest, daß der von der Fraktion der CDU/CSU vorgeschlagene Abgeordnete Dr. Barzel die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages nicht erreicht hat.“ Mit diesen Worten, gesprochen um 13:22 Uhr am 27. April 1972, beendete der Bundestagspräsident eines der größten Dramen der deutschen Politikgeschichte. Die Fraktion der CDU/CSU war mit dem Versuch gescheitert, Bundeskanzler Willy Brandt durch ein Konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen.

Das öffentliche Leben ruhte

Oft genug ist seither spekuliert und recherchiert worden, wer wen mit welchen Mitteln dazu gebracht hat, nicht für den Unions-Kandidaten zu stimmen. Darüber geriet etwas viel Wichtigeres in Vergessenheit: die riesige Welle an Streiks und Demonstrationen, mit denen gegen das Vorhaben von CDU und CSU protestiert wurde. Mindestens 300.000 Arbeiter und Angestellte traten zwischen Dienstag und Donnerstag, zwischen dem 25. und dem 27. April 1972, in befristete Streiks, weitere mindestens 100.000 Menschen drückten ihre Solidarität mit Bundeskanzler Willy Brandt in Demonstrationen und Kundgebungen aus. Auch wer nicht streikte oder demonstrierte, wurde vom politischen Fieber erfasst.

Als am Vormittag des 27. April der Bundestag über das Misstrauensvotum debattierte und im Anschluss die Abstimmung erfolgte, ruhten das öffentliche Leben und die Arbeit in den Betrieben. Wer es irgendwie einrichten konnte, lauschte den Transistorradios oder verfolgte die Entscheidung vor dem Fernseher. Die Republik befand sich in einem stillen Generalstreik. Und hätte Barzel gesiegt, dann – so forderten es bereits einige Belegschaften, so prognostizierten es politische Beobachter – wäre womöglich aus dem stillen ein offener Generalstreik geworden, mindestens aber ein Flächenbrand an Arbeitsniederlegungen.

Legal, aber nicht legitim

Das Vorgehen der Union war völlig verfassungskonform. Die Protestierenden aber empörten sich darüber, dass die von Barzel erwartete Mehrheit gegen Brandt nur mit Hilfe von Fraktionswechslern zustande kommen konnte. Einige Abgeordnete, die 1969 als Mitglieder von SPD oder FDP in den Bundestag gekommen waren, hatten sich in der Zwischenzeit der CDU/CSU-Fraktion angeschlossen, weil sie mit der Ostpolitik oder der Gesellschaftspolitik der sozial-liberalen Regierung nicht einverstanden waren. Dem Misstrauensantrag fehlte es nicht an Legalität, aber an Legitimität.

SPD und DGB lehnten es ab, zu Protesten aufzurufen. Sie wollten nicht in den Ruf geraten, den Bundestag bei der Ausübung eines verfassungskonformen Rechts unter Druck zu setzen. Was in den Betrieben und auf den Marktplätzen geschah, war nicht zentral gesteuert. Belegschaften, Studenten und Schüler verabredeten sich spontan, bei der Frühstückspause, in der Mensa oder auf dem Schulhof zu befristeten Arbeitsniederlegungen oder Protestzügen. Eine einzige überregionale Aktion fiel aus diesem Rahmen: eine Demonstration in Bonn, organisiert von den Jusos, der DGB-Jugend und den Falken, an der am 26. April 30.000 Menschen teilnahmen, viel mehr als von den Organisatoren erwartet.

Unterstützung erfuhr der Bundeskanzler in diesen Tagen auch auf andere Art. Zehntausende Telegramme und Briefe trafen im Bundeskanzleramt ein, so viele wie noch nie. Ganz unerwartete Verbündete traten auf den Plan: Die Hohenzollern und einige Firmenchefs versicherten Willy Brandt ihrer Unterstützung, auch aus der DDR erreichten ihn Telegramme und Zuschriften. Dass dies möglich war, war ein Ergebnis seiner Entspannungspolitik.

Wahlsieg im November

Das „Wunder von Bonn“ wie die Süddeutsche Zeitung schrieb, brachte den Regierungsparteien kurzfristig Aufwind. Aber im Sommer war der Höhenflug schon wieder vorbei. Karl Schiller, Finanz- und Wirtschaftsminister und 1969 noch vor Willy Brandt die Wahlkampflokomotive der SPD, trat zurück und begann, für die CDU/CSU Wahlkampf zu machen. Inflationsängste und dann auch noch der palästinensische Terroranschlag auf die israelische Olympiamannschaft in München verschlechterten die Wahlaussichten von SPD und FDP weiter. Erst in den letzten Wochen vor der Wahl wendete sich das Blatt zugunsten der Regierung.

 

Wichtiger als die Aktivitäten der Wählerinitiativen war die Mobilisierung der Arbeitnehmerschaft. Diejenigen, die beim Protest gegen den Misstrauensantrag in vorderster Linie gestanden hatten, die Industriearbeiter, waren es, welche im November die Bestätigung Willy Brandts herbeiführten und damit Rainer Barzel ein zweites Mal Paroli boten. Erst in zweiter Linie war der Erfolg auf die Lehrer, Akademiker, Künstler und Intellektuellen der SWI zurückzuführen. Der Wahlsieg am 19. November 1972 war kein Triumph der „Neuen Mitte“, sondern Ergebnis einer maximalen Ausschöpfung des traditionellen Wählerreservoirs der SPD.

Auftakt zu einer neuen Protestkultur

Die betrieblichen Streiks Ende April 1972 waren – das wissen wir heute – die letzte politische Bewegung in der deutschen Geschichte, die von der Arbeiterschaft getragen wurde. Natürlich gab es auch danach noch bedeutende Ereignisse, in denen die Arbeiterschaft ihre gewerkschaftliche Stärke zeigte, z. B. den Kampf um die 35-Stundenwoche. Aber dies waren Tarifbewegungen, in ihnen ging es nicht um Politik im engeren Sinne. In den Protesten gegen Umweltverschmutzung und Atomenergie, ebenso in der Friedensbewegung waren akademisch gebildete Mittelschichten oder Studenten tonangebend. Auch wenn viele der Demonstranten Arbeitnehmer waren, so wäre es doch unzutreffend, diese Bewegungen der Arbeiterschaft zuzurechnen. Akademiker prägten das Gesicht der „Neuen sozialen Bewegungen“ der späten 1970er und 1980er Jahre. Auch in der „Friedlichen Revolution“ in der DDR 1989 spielten die Betriebe keine Rolle.

Was Ende April 1972 in der Bundesrepublik geschah, zeigte, wie selbstbewusst die Bürgerinnen und Bürger geworden waren. Ohne ein Signal von oben traten sie in den Ausstand und gingen auf die Straße. Es war der Auftakt zu einer neuen, eigensinnigen Protestkultur, wir sie für uns heute selbstverständlich geworden ist.

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Bernd Rother

ist Mitglied des SPD-Geschichtsforums.

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