Geschichte

Gegen das Vergessen: Wie eine Genossin die Republik der Nachkriegszeit anklagte

Jeanette Wolff war SPD-Politikerin, Frauenrechtlerin und Überlebende der Shoah. Ihr Einsatz für die Entschädigung der NS-Opfer machte sie zu einer der prägensten Jüdinnen des 20. Jahrhunderts.

von Norbert Bicher · 22. August 2024
Die Sozialdemokratin Jeanette Wolff setzte sich für NS-Opfer ein.

Die Sozialdemokratin Jeanette Wolff setzte sich für NS-Opfer ein.

Haushaltsdebatte, viele Zahlen. Viel Geld für die einen, viel zu wenig für die anderen. Das prangert die SPD-Abgeordnete Jeanette Wolff an, als sie in der Debatte am 22. Juni 1955 das „Bundesentschädigungsgesetz“ kritisiert. Wolff wirft dem damaligen Finanzminister Fritz Schäffer (CSU) vor, dass er für die „Wiedergutmachung“ von Nazi-Opfern entschieden zu wenig Mittel bereitstelle. Zudem sieht sie ein großes Ungleichgewicht zwischen den bescheidenen Zahlungen an Witwen von Nazi-Opfern, die in Konzentrationslagern umgekommen waren, und den satten Pensionsansprüchen für Witwen, deren Männer „in der Nazizeit im Heere sehr hohe Stellen bekleidet haben“.

Für Wolff versteckt sich hinter dieser Ungerechtigkeit weit mehr als eine finanzielle Schieflage. Sie sieht darin eine generelle Schwäche der Demokratie, „die es nicht wagt“, gegen die Ewig-Gestrigen vorzugehen. Wie im Brennglas beschreibt sie in ihrer Rede den Zustand der Republik, die eine Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen behindert und in der sich ehemalige Täter, darunter auch Abgeordnete, als Opfer inszenieren.

Zeugin gegen das NS-System

Sie prangert an: Es sei notwendig, „hier in aller Öffentlichkeit einmal auszusprechen, was im Sinne der jungen Demokratie sein muss – wenn wir nämlich in den Zeitungen lesen, wie vorsichtig man ist mit Urteilen gegen jene, die in der Nazizeit Morde auf ihr Gewissen geladen haben“. Und weiter: „Es sind Urteile, die so milde ausfallen, dass wir glauben, in jenen Kreisen der ewig Gestrigen ist der Gedanke aufgetaucht: Wie schwach ist diese Demokratie, dass sie es nicht wagt, gegen ihre eigenen Mörder vorzugehen!“

Jeanette Wolff weiß, wovon sie spricht. Sie hat als Belastungszeugin in Prozessen gegen KZ-Verantwortliche ausgesagt und erfahren, wie hoch der Druck der Täter und ihrer Gesinnungsgenossen auf die Richter war. Sie selbst, 1888 als Jeanette Cohen im westfälischen Bocholt geboren, ist Jüdin, schloss sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der SPD an. Unter den Nazis wurde sie 1933 als Sozialdemokratin inhaftiert, 1942 als Jüdin in das Konzentrationslager Riga deportiert. Ihr Mann und eine Tochter wurden von den Nazis ermordet. Sie überlebte und kehrte nach dem Krieg nach Berlin zurück, wo sie sich gleich wieder in der SPD engagierte und mit großem Engagement für den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde einsetzte.

Jeanette Wolff,
SPD-Abgeordnete

„Ich habe mich entschlossen, nicht zu hassen.“

Wolff kam nach Deutschland zurück mit dem festen Willen beim Aufbau der Demokratie zu helfen und mit der Lebensdevise: „Ich habe mich entschlossen, nicht zu hassen.“ 1952 zog sie als Berliner Abgeordnete in den Bundestag ein. Ihr Mut, ihr Einsatz für die Aufarbeitung der Nazi-Diktatur wurden jüngst in dem von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas herausgegebenen Buch über weibliche Abgeordnete im ersten Bundestag („Der nächste Redner ist eine Dame“) dokumentiert. Die Historikerin Nathalie Weis, die das Buch für den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags konzipiert hat, hält es für einen „Skandal“, dass die Verdienste von Jeanette Wolff nahezu in Vergessenheit geraten sind. 

Bedingungslos aufklären

Hassen wollte sie nicht, aber bedingungslos aufklären über die Vergangenheit und den teils reaktionären Zustand der Republik. Im Protokoll ihrer Rede vom 22. Juni 1955 ist das eindrucksvoll nachzulesen. Sie warnte: „Wir haben im Interesse der Abwehr der Untergrabung der Demokratie daran zu denken, dass wir den Opfern aus der Nazizeit gerecht werden müssen. Das wäre die beste Abfuhr für jene, die immer noch glauben, in der Bundesrepublik oder in Berlin ihre Ansprüche geltend machen zu können, und die laut rasselnd von einem Wiederaufbau Deutschlands in ihrem Sinne sprechen, jene ewig Unbelehrbaren und jene auch Boshaften, die unter der Devise, demokratisch zu sein, die Demokratie unterminieren und Dynamitpatronen unter den Bau unseres jungen demokratischen Staates legen.“

Jeanette Wolff blieb Abgeordnete bis 1962. Von 1965 bis 1975, ein Jahr vor ihrem Tod, war sie stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Für Paul Spiegel, den späteren Vorsitzenden des Zentralrats, war sie, die wegen ihrer rhetorischen Schärfe „Trompete“ genannt wurde, eine der prägendsten jüdischen Frauen des 20. Jahrhunderts.   

Autor*in
Norbert Bicher

arbeitete in den 1980er und 1990er Jahren frei für den „Vorwärts". Danach war er Parlamentskorrespondent, Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und des Verteidigungs­ministeriums.

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1 Kommentar

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Fr., 23.08.2024 - 11:19

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Bereits 1918 und speziell 1945/49 gab es keine demokratische Aufarbeitung bei der (west)deutschen Justiz. Bei Entschädigungen für Naziopfer war dieser Staat besonders knausrig, egal welcher Religionsgemeinschaft oder Partei sie angehörten (und Kommunisten, auch wenn sie Juden waren, bekamen schon garnix).
Der Adenauerstaat ließ sich auf einen Ablasshandel mit Ben Gurion ein, auch wenn der Staat Israel keines wegs alle Juden representiert.
Ob Jeanette Wolff sich mut der heutigen Politik der Bundesregierung so voll identifizieren würde ?