Geschichte

Franz Mehring: „Viel Talent, aber ein berechnender Lump“

Als Journalist begleitete Franz Mehring die SPD im Kaiserreich und wurde zu einer ihrer Chronisten. Nach der russischen Oktober-Revolution wurde er zu einem der geistigen Väter der KPD.

von Lothar Pollähne · 29. Januar 2024
Geistiger Vater der KPD: Franz Mehring

Geistiger Vater der KPD: Franz Mehring

Am 30. Oktober 1901 stirbt im Alter von nur 42 Jahren Bruno Schoenlank, einer der beiden Chefredakteure der „Leipziger Volkszeitung“. Für die Sozialdemokratie ist dies ein herber Verlust, denn die Volkszeitung ist neben dem „Vorwärts“ das wichtigste Organ der Partei und Schoenlank einer ihrer wichtigsten Publizisten. Auf Bitten der Parteiführung und dem Wunsche Schoenlanks entsprechend tritt Rosa Luxemburg eher widerwillig in die redaktionelle Leitung der Volksstimme ein.

Das kann nicht gut gehen, denn der zweite Chefredakteur ist ebenso selbstbewusst und streitsüchtig wie Rosa Luxemburg. Am 27. September beendet sie ihre Anstellung und schreibt dem „sehr geehrten Herrn Doktor“: „Ich kündige Ihnen die Freundschaft, die aufrechtzuerhalten mir schon seit einiger Zeit große Selbstüberwindung kostete, da ich wohl sah, dass sie bereits seit Jahren zur leeren Schale ohne Inhalt geworden war.“ Das ist maßlos übertrieben, denn Rosa Luxemburg und der Geschmähte, der marxistische Partei-Historiker Franz Mehring, stehen sich politisch eigentlich nahe. 

Kindheit im konservativen, preußischen Umfeld

Wie so viele führende Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten der ersten Generation, ist auch Franz Mehring kein Kind der Arbeiterklasse. Geboren wird er am 27. Februar 1846 in der pommerschen Kleinstadt Schlawe als Sohn des Offiziers und höheren preußischen Steuerbeamten Carl Wilhelm Mehring und dessen Frau Henriette, geborene Schulze. Der Sohn wird auf den Namen Franz Erdmann Mehring getauft und wächst wohlbehütet in einem konservativen, streng preußischen Umfeld auf. 

Nach dem Besuch von Gymnasien in Stolp und Berlin erhält Franz Mehring 1866 sein Reifezeugnis am Königlichen-Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Greiffenberg und wird für eine Arbeit über „Preußens Verdienste um Deutschland“  mit der Bestnote belohnt. Bis an sein Lebensende wird sich Mehring in unterschiedlicher Form an Preußen geradezu manisch abarbeiten.

Angesichts seiner Herkunft ist es erstaunlich, dass Franz Mehring Klassische Philologie studiert; zunächst von 1866 bis 1868 in Dresden und danach bis 1870 an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, die er ohne Abschluss verlässt. 

Mehring fühlt sich zum Journalismus berufen und daher fügt es sich gut, dass er in die Redaktion der Tageszeitung „Zukunft“ eintreten kann, die der von ihm bewunderte Radikaldemokrat Johann Jacoby herausgibt. Auch August Bebel schätzt das demokratische Tageblatt und trifft sich regelmäßig mit bürgerlichen Sympathisanten der „Zukunft“ zum sonntäglichen Umtrunk. Bebel begegnet dabei auch dem „trinkfesten“ jungen Franz Mehring.

Rücksichtslos gegenüber seinen Gegnern und sich selbst

Beeindruckt vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 wendet sich der überzeugte Preuße Franz Mehring den Nationalliberalen zu, die diesen Krieg vehement befürworten. Von 1871 bis 1874 arbeitet Mehring für das „Oldenberg’sche Korrespondenzbüro“ und berichtet aus dem Reichstag und dem Preußischen Landtag. In dieser Zeit wendet sich der wandlungsfähige Mehring wieder demokratischen Positionen zu.

Im Anschluss an seine Zeit als Parlamentsreporter wird Franz Mehring als politischer Korrespondent für „Die Wage“ tätig, die der ehemalige Chefredakteur der „Zukunft“, Guido Weiß, als „Wochenblatt für Politik und Kultur“ in Berlin herausgibt. Über die Grenzen Berlins hinaus macht sich Mehring einen Namen, als er sich 1875 in einer Artikelserie mit dem preußisch-reaktionären Historiker Heinrich von Treitschke anlegt, den er einen „Sozialistentödter“ nennt. Mehrings Einlassungen zu Treitschke erscheinen wenig später als Buch mit dem anmaßenden Untertitel „Eine sozialistische Replik“. 

Der streitbare Franz Mehring ist rücksichtslos gegen jedwede Gegner, auch solche, die ihm zeitweise nahe stehen, und auch sich selbst gegenüber. In den meisten Fällen versucht Mehring so, persönliche Befindlichkeiten zu bearbeiten. Ab 1875 arbeitet er für die „Frankfurter Zeitung“ des linksliberalen jüdischen Bankiers und Verlegers Leopold Sonnemann. Schon im Jahr darauf nutzt er eine andere Zeitung, um Sonnemann der Bestechlichkeit und wegen angeblich illegaler Börsenspekulationen zu bezichtigen. Das erzürnt August Bebel und Wilhelm Liebknecht, die mit Sonnemann befreundet sind und trägt ihm den Vorwurf ein, antisemitisch zu agieren.

Als Franz Mehring 1877 das Buch „Die Deutsche Socialdemokratie, ihre Geschichte und ihre Lehre“ veröffentlicht, in dem er Lassalle, Bebel und Liebknecht attackiert und Karl Marx als keifend, kleinlich und widerwärtig darstellt sowie den Kern der Sozialdemokratie als vom „Hass gegen das Vaterland“ befallen sieht, reagieren die führenden Sozialdemokraten verärgert.

„Weiß ich keinen anderen in Berlin, der so gut schreiben kann.“ 

In der bürgerlich liberalen Gesellschaft dagegen erwirbt sich Mehring damit den Ruf, ein Kenner der Sozialdemokratie zu sein. Dort wird er fortan mit nachhaltiger Verachtung betrachtet. Mehring rächt sich und mutiert zum „Sozi-Fresser“. Diese Position behält er nicht lange bei. 

Von 1878 bis 1884 schreibt Franz Mehring für die Bremer „Weser-Zeitung“. Für eine Artikel-Serie über Karl Marx studiert er intensiv die Werke von Marx und Engels und entdeckt den „Historischen Materialismus“ als wissenschaftliche Methode für seine weiteren Arbeiten. Schrittweise nähert sich Mehring wieder der Sozialdemokratie an. Als Grundliberaler verabscheut er die Bismarck’schen Sozialistengesetze, und das Bürgertum hält er trotz der Sozialgesetze nicht für fähig, die soziale Frage grundsätzlich zu lösen. 

1884 wird Franz Mehring Mitarbeiter der liberalen Berliner „Volks-Zeitung“, der einzigen bürgerlichen Tageszeitung, die während der Sozialistengesetze verboten wird. Mehrings Tätigkeit beeindruckt auch August Bebel und Paul Singer, die sich wieder mit dem Querkopf anfreunden — trotz einer freundlichen Ermahnung. 1885 schreibt Friedrich Engels an August Bebel: „Die Artikel in der ‚Berliner Zeitung‘ sind sicher von Franz Mehring, wenigstens weiß ich keinen anderen in Berlin, der so gut schreiben kann. Der Kerl hat viel Talent und einen offenen Kopf, ist aber ein berechnender Lump und von Natur Verräter. Ich hoffe, man wird das im Gedächtnis haben, wenn er wieder zu uns kommt, was er sicher tut, sobald sich die Zeiten ändern.“ 

Grundlagenarbeit für einen sozialistischen Kulturbegriff

Sechs Jahre dauert es, bis sich Engels' Vorhersage bewahrheitet. Nachdem Franz Mehring die gesamte bürgerliche Presse für korrupt erklärt hatte, setzen ihn die Herausgeber der „Volks-Zeitung“ 1890 zunächst als Chefredakteur ab und bald danach vor die Tür. 1891 schließt sich der bürgerliche Marxist Mehring der Sozialdemokratischen Partei an.

 Im Juni des Jahres beginnt er — zunächst ohne Namensnennung — als Leitartikler für „Die Neue Zeit“ zu arbeiten, das Theorie-Organ der Partei. Zum zehnten Geburtstag des Blattes resümiert Mehring: „Die Neue Zeit hat ein Alter erreicht, wie vor ihr noch keine sozialistische Revue. Sie verdankt dies in erster Reihe dem theoretischen Sinn, dem hohen Bildungsbedürfnis der sozialistischen Arbeiter Deutschlands, die den Stamm ihres Leserkreises bilden.“ 

Als weitgehend selbständig agierender Leiter des Feuilletons versucht Franz Mehring dem Lesepublikum die Klassiker der deutschen Literatur in ihrem jeweiligen historischen Kontext und ihrer aktuellen Bedeutung nahe zu bringen. So beschäftigt er sich mit Lessing und untersucht den Einfluss Schillers auf die großen Sozialisten. Diese Arbeiten sind als Grundlagenarbeit für einen sozialistischen Kulturbegriff zu verstehen. 

1892 erscheint Mehrings bis dato wichtigstes Werk: „Die Lessing-Legende“, in dem er sich gegen die Versuche der preußischen Herrscher wendet, den „freiesten und wahrhaftigsten“ Denker Lessing als einen der ihren zu vereinnahmen. Engels lobt das Buch in höchsten Tönen als „bei weitem die beste Darstellung der Genesis des preußischen Staats, die existiert“.

Glühender Befürworter der Oktober-Revolution

1898 veröffentlicht Franz Mehring sein „magnum opus“, die vierbändige „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“, die von den Anfängen bis zum Erfurter Parteitag von 1891 reicht. 1902 wird Franz Mehring zum Chefredakteur der „Leipziger Volkszeitung“ berufen, die das publizistische Rückgrat der linken Sozialdemokratie bildet. Ein angenehmer Chef ist er nicht, denn man muss sich fürchten „mit ihm sich vertraulicher einzulassen, weil der Verdacht besteht, er notierte alles, was er hört.“ Diese fatale Eigenschaft hatte ihm Bebel schon 1892 attestiert.

Nach der russischen Revolution von 1905 positioniert sich Franz Mehring als Befürworter der Rätedemokratie und plädiert wie Rosa Luxemburg für Massenstreiks als Mittel des Umsturzes. Revisionistisches Gedankengut, das die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft mit den Mitteln des Parlamentarismus anstrebt, lehnt Mehring ab. Spätestens mit Beginn des Weltkrieges 1914 befindet sich Franz Mehring endgültig in einer Außenseiter-Position. Seine publizistischen Foren stehen ihm nicht mehr zur Verfügung und damit auch die Möglichkeit, in die Parteiöffentlichkeit hineinzuwirken. 

Im August 1914 gehört Franz Mehring gemeinsam mit Rosa Luxemburg zu den Gründern der „Gruppe Internationale“, aus der zwei Jahre darauf der „Spartakusbund“ entstehen wird, der als Keimzelle der KPD anzusehen ist. Einmal in seinen Leben kann Mehring 1917 ein Mandat erringen. Er rückt für den inhaftierten Karl Liebknecht in den „Preußischen Landtag“ ein. Liebknechts Reichstagsmandat erlangt er jedoch nicht. Als glühender Befürworter der Oktober-Revolution gehört Franz Mehring zu den geistigen Vätern der „Kommunistischen Partei Deutschlands“ (KPD).

Am Gründungsparteitag kann er aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen. 14 Tage nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs stirbt auch Franz Mehring am 29. Januar 1919 und damit „das Letzte und Beste“, das die deutsche Bourgeoisie noch „an Geist, Talent und Charakter hatte“, wie es die  überschwengliche Rosa Luxemburg zum 70. Geburtstag des Grenzgängers geschrieben hatte. 

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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3 Kommentare

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Di., 30.01.2024 - 11:14

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Der Spartakusbund war nicht die Keimzelle der USPD ! Der Sartakusbund war ein Zusammenschluss von linken Sozialdemokraten auf mehr oder weniger theoretischer Basis, während die USPD - zuerst: Unabhängige Fraktionsgemeinschaft - ein Zusammenschluss der aus der SPD-Fraktion ausgeschlossenen Sozialdemokraten war - meist zusammen mit ihren Basisorganisationen (ca. die Hälfte der SPD- Mitglieder)

Gespeichert von Wolfgang Martin (nicht überprüft) am Mo., 18.03.2024 - 21:28

Antwort auf von Armin Christ (nicht überprüft)

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Es ist typisch, dass die Sozialdemokratie die USPD als Gründung eines radikalen Zirkels und dann natürlich auch der väter und Mütter der späteren KPD bezeichnet. Die Wahrheit ist, dass die Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion, die nach langem Zögern den fürchterlichsten Krieg der Menschheitsgeschichte nicht mehr unterstützten von ihren lieben Kollegen zuerst aus der Fraktion und dann aus der Partei ausgeschlossen wurden und ihnen gar nichts anderes übrigblieb, als erst eine eigene Fraktion und dann eine eigene Partei zu gründen. Dazu gehörten nebenbei auch viele, die nach der Spaltung der USPD 1922 in der Weimarer Republik wieder in den Schoß der SPD zurückkehrten: Eduard Bernstein, Karl Kautsky, rudolf Hilferding, Dittmann u.a. Etwa ein Drittel der 290.000 Mitglieder schlossen sich der KPD an. Der Spartakusbund war eine kleine Gruppe um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehring, Clara Zetkin u.a. die sich direkt in der Zeit nach der ersten Bewilligung der Kriegskredite zusammengeschlossen hatte und einen entschlossenen, aber nicht sehr erfolgreichen Kampf gegen den Krieg führte. sie schloßen sich der USPD an, um eine legale Basis zu haben, hatten dort aber nie irgendeine Mehrheit. Ihre Führer waren wegen Verhaftung an der Vorbereitung der deutschen Revolution wenig beteiligt im Gegensatz zu den revolutionären Obleuten, unabhängigen Gewerkschaftern, die mit Teilen der USPD verbunden waren. Führer der USPD ließen sich aber von Friedrich Ebert, Scheidemann und anderen Führern der MSPD einwickeln und halfen diesen an die Macht, bis Ebert Weihnachten 1918 das Bündnis mit der kaiserlichen OHL vorzog, SPD-Mitglied Noske die Freikorps protegierte, die später zur SA mutierten und im Bürgerkrieg die unabhängigen Kräfte niederschießen ließ.

Gespeichert von Nils Michaelis am Di., 19.03.2024 - 09:25

Antwort auf von Armin Christ (nicht überprüft)

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Vielen Dank für den Hinweis, "Keimzelle für die KPD" wäre richtig, wir ändern das!

 

Viele Grüße

 

Nils Michaelis (Redaktion "vorwärts")