Geschichte

75 Jahre Bundestag: Wie Renate Schmidt gegen Sexismus im Parlament kämpfte

„Zur Sache Schätzchen!“, „Sie sehen besser aus, als Sie reden!“ oder „Küsschen, Küsschen!“ In den 80er Jahren müssen sich Frauen im Bundestag von ihren männlichen Kollegen eine Menge anhören. Bis der SPD-Abgeordneten Renate Schmidt am 20. September 1984 der Kragen platzt.

von Norbert Bicher · 9. Juli 2024
Frauen im Parlament seien keine „Leichtlohngruppe“: Renate Schmidt 1983 bei einer Rede im Bundestag

Frauen im Parlament seien keine „Leichtlohngruppe“: Renate Schmidt 1983 bei einer Rede im Bundestag

Es waren fünf Minuten, die es für die Herren der Schöpfung im Bundestag in sich hatten. Die Nürnbergerin Renate Schmidt, seit 1980 Abgeordnete der SPD, tat gar nicht viel. Sie stellte nur fest – und zitierte. Fünf Minuten in einer Debatte, in der sich das Parlament an diesem 20. September 1984 über Arbeitsweise und Selbstverständnis des Hohen Hauses austauschte und stritt. 

Bundestagspräsident Rainer Barzel (CDU) hatte die Aussprache angeregt, weil die Arbeit des Plenums allzu oft in Ritualen erstarrte. Der Redebedarf war groß. 46 Wortmeldungen, in denen Abgeordnete aus allen Fraktionen ein stärkeres Selbstbewusstsein des Parlaments gegenüber der Dominanz der Exekutive einforderten.

Renate Schmidt geht die männlichen Abgeordneten an

Die 35. Rednerin, Renate Schmidt, setzte in ihrem Beitrag einen ganz anderen Akzent: Sie spießte die Dominanz und Unflätigkeit vieler männlicher Abgeordneten gegenüber den Parlamentarierinnen auf. Der jungen SPD-Abgeordneten, die als Betriebsrätin bei dem Versandhandel „Quelle“ ihre Durchsetzungskraft geübt hatte, ging es auf die Nerven, dass Rednerinnen im Plenum zur Zielscheibe männlicher Zwischenrufer degradiert und lächerlich gemacht wurden.

Sie selbst hatte das ein Jahr zuvor bei der großen, zweitägigen Debatte über den NATO-Doppelbeschluss erfahren. Als sie sich dafür einsetzte, die Bedenken der Friedensbewegung nicht einfach vom Tisch zu fegen und die Ängste der vielen jungen Beschlussgegner*innen zu akzeptieren, schlug ihr im Plenum Häme entgegen. Nach dem Motto: Das wäre ja noch schöner, wenn sich Frauen in das Thema Sicherheitspolitik einmischten. Frauen gehörten an den Herd der Familien-, Jugend-, Bildungs- oder Gesundheitspolitik.

Bei Frauen explodiert die Zahl der Zwischenrufe

Knapp zehn Minuten sprach Renate Schmidt. Sie wurde durch 42 Zwischenrufe von Männern aus CDU, CSU und FDP unterbrochen und gestört – nicht in freundlicher Absicht. Als sie diese Zahl im Plenarprotokoll schwarz auf weiß nachlas, recherchierte sie, ob die Quote der Zwischenrufer eine Ausnahme oder männliche Regel war.

Das Ergebnis war eindeutig. Sie hatte wahllos verschiedene Debatten nachgelesen und festgestellt, bei Frauen am Pult seien die Zwischenrufe explodiert. Nicht nur das: „Es ist unerträglich, feststellen  zu müssen, dass dann, wenn eine Frau ans Rednerpult tritt, der Lärmpegel ganz beträchtlich steigt, die Zurufe an Qualität abnehmen und an Quantität zunehmen.“ 

Und dann lieferte sie dem Plenum eine Auswahl von verunglimpfenden Rufen, denen sich Rednerinnen ausgesetzt sahen. „Zur Sache Schätzchen!“ „Sie sehen besser aus, als Sie reden!“ „Hat die aber eine spitze Nase!“ „Küßchen, Küßchen!“ „Wer hat Ihnen denn diese Rede geschrieben?“

Renate Schmidts „meistzitierte Rede im Bundestag“

Diesen Umgang wollte die Gewerkschafterin nicht länger akzeptieren. Frauen im Parlament seien keine „Leichtlohngruppe“, sondern müssten ernst genommen werden, forderte Schmidt. Sie schloss ihre Philippika mit der Mahnung: „Ich will hier für Frauen zwar keinen Schonraum, ich möchte aber, dass wir vom gesamten Parlament, von unseren männlichen Kollegen ernst genommen werden, und dass man sich mit uns hier in diesem Raum politisch auseinandersetzt. Wir sind in der gleichen Arbeitsposition wie Sie.“

Das Protokoll vermerkt: „Beifall aus allen Fraktionen.“ Ob er überwiegend von Frauen kam oder ob sich dem auch Männer anschlossen, bleibt offen. In der medialen Öffentlichkeit aber war die Rede ein großer Erfolg. „Meine meistzitierte Rede im Bundestag“, erinnert sich Renate Schmidt noch heute an diesen Fünf-Minuten-Auftritt.

Wie sie haben Frauen aus allen Fraktionen in dem 2021 gedrehten und sehr sehenswertem Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen“ über eine bisweilen unerträgliche Behandlung durch ihre männlichen Kollegen in den oft verklärten Zeiten der „Bonner Republik“ berichtet. Zum Glück haben sich die Parlamentarierinnen nicht unterkriegen lassen. Denn Politik war immer „eine viel zu ernste Sache“, wie es im Untertitel des Film heißt, „um sie allein den Männern zu überlassen“.

Die Serie
Im September 1949 trat der Bundestag erstmals zusammen. In einer neuen Serie beleuchten wir Reden aus acht Jahrzehnten. Alle Teile der Serie finden Sie hier.

Autor*in
Norbert Bicher

arbeitete in den 1980er und 1990er Jahren frei für den „Vorwärts". Danach war er Parlamentskorrespondent, Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und des Verteidigungs­ministeriums.

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