Geschichte

3. Oktober: „Jetzt haben wir die DDR endlich zur Strecke gebracht.“

Mit der Wiedervereinigung begann für den Mediziner Rüdiger Fikentscher ein zweites Leben als SPD-Politiker. Im vorwärts-Interview blickt er auf die Zeit zurück – und sagt, warum der 9. Oktober als Tag der Deutschen Einheit passender gewesen wäre.
von Kai Doering · 3. Oktober 2021
Rüdiger Fikentscher: In dieser Nacht war ich sehr glücklich.
Rüdiger Fikentscher: In dieser Nacht war ich sehr glücklich.

Sie haben die Nacht auf den 3. Oktober 1990 mit vielen anderen auf den Stufen des Reichstagsgebäudes in Berlin verbracht. Was haben Sie damals gefühlt?

Mir war von Anfang an klar, dass das ein historischer Moment wird, bei dem ich gerne dabei sein würde. Wir hatten dann das Glück, dass auch meine Frau noch eine Karte bekam. So standen wir ganz dicht neben Hans-Jochen Vogel und auch nicht weit entfernt von Willy Brandt und Helmut Kohl als vor dem Reichstag die schwarz-rot-goldene Fahne aufgezogen und die Nationalhymne gespielt wurde. Immer, wenn ich jetzt den Reichstag sehe, muss ich daran denken, dass ich dabei gewesen bin.

Hatten Sie damals eher das Gefühl, dass etwas zum Ende kommt oder das Gefühl eines Neuanfangs?

In der Nacht vor dem Reichstag überwog die Freude, dass Deutschland endlich wieder eins ist. In dieser Nacht war ich sehr glücklich. Als wir dann am nächsten Tag, dem 3. Oktober, beim Festakt mit dem Bundespräsidenten im Schauspielhaus waren, kam mir dann ein Satz über die Lippen, der vielleicht ganz gut ausdrückt, was ich damals gefühlt habe: Jetzt haben wir die DDR endlich zur Strecke gebracht.

Bereits ein knappes Jahr zuvor, am 9. November 1989, war die Mauer gefallen. In Ihrem Buch „Was mir die Freiheit brachte“ schreiben Sie, dass bereits am 9. Oktober klar gewesen sei, dass die Mauer nicht zu halten ist. Warum?

Jede Revolution hat einen räumlichen und zeitlichen Schlüsselpunkt wie etwa der Sturm auf die Bastille für die Französische Revolution. Für die Friedliche Revolution in der DDR waren die Ereignisse auf dem Leipziger Ring am 9. Oktober 1989 entscheidend. Schon damals war klar: Wenn dort die Staatsmacht nicht einschreitet, wird sie es auch später nicht tun. Sie griff nicht ein, somit war die Entscheidung gefallen und es lief alles auf die deutsche Einheit zu. Seit diesem Tag brauchte in der DDR niemand mehr Angst zu haben. Deshalb tut es mir auch leid, dass nicht der 9. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit geworden ist. Der 3. Oktober hat ja eher zufälligen Charakter.

In Ihrem Buch schreiben Sie über die damaligen Ereignisse: „Für niemanden blieb das Leben wie es war.“ Sie sind in dieser Zeit vom Mediziner zum Politiker geworden. War das eine bewusste Entscheidung?

Nicht in dem Sinne, dass ich an einem Tag beschlossen hätte, Politiker zu werden. Mir wurde in dieser aufregenden Zeit aber klar, dass ich etwas tun musste. Ich war ja schon zu DDR-Zeiten ein politisch denkender Mensch und habe in der Zeit des Umbruchs alle Gelegenheiten genutzt, die sich damals boten. Zunächst bin ich dem „Neuen Forum“ beigetreten, im November 1989 dann der SDP. Dort bin ich dann sehr schnell Bezirksvorsitzender geworden, auch, weil ich eine gewisse sozialdemokratische Vorbildung hatte. Glücklicherweise hatte ich in der Klinik, in der ich damals gearbeitet habe, sehr verständnisvolle Kollegen in der HNO-Klinik der Universität, die mir zum Teil recht abenteuerlustige Tagesabläufe ermöglicht haben.

Den Drang, die DDR zu verlassen, hatten Sie aber nie?

Nein. Bei uns herrschte – unausgesprochen – eher das Credo: Man läuft nicht weg, nur weil ein paar russische Divisionen im Land stehen. Für mich war auch die DDR immer Deutschland, nur dass wir eben in dem Teil lebten, den die Russen besetzt hatten. Deshalb habe ich mich auch immer als Deutscher gefühlt und lehne die Bezeichnungen „Ossi“ und „Wessi“ bis heute ab. Diese Grundhaltung hat mir den Umgang und die Arbeit mit Westdeutschen immer sehr erleichtert.

Ihr Buch heißt „Was mir die Freiheit brachte“. Was hat Sie Ihnen gebracht?

Viele denken hierbei sicher zuerst an die Reisefreiheit, doch die ist nur ein Aspekt. Nach 1989 begann für mich ein völlig neues Leben mit der Möglichkeit, mitzugestalten und mitzureden. Darüber hinaus hat mir die neue Freiheit den Umstand eröffnet, großartige Menschen kennenzulernen und mit ihnen zusammenzuarbeiten, vor denen man einfach Hochachtung haben muss.

Auch 31. Jahre nach dem 3. Oktober 1990 ist die „innere Einheit Deutschlands“ noch immer nicht ganz vollendet. Hätten Sie damals, als Sie auf den Stufen des Reichstags standen, gedacht, dass es damit so lange dauern würde?

Das war etwas, über das ich damals eigentlich gar nicht nachgedacht habe – auch weil ja klar war, dass es zwischen den einzelnen Teilen Deutschlands schon immer große Unterschiede gab. Ich wurde in Schlesien geboren. Vom Rheinland zum Beispiel war das weit entfernt, nicht nur geografisch, sondern auch von der Mentalität her. Ebenso trennt Schleswig-Holstein und Bayern (trennt) kulturell sehr viel. Trotzdem sind sie alle ein Teil von Deutschland und das ist sehr gut so. Ich schätze diese Vielfalt mit den Besonderheiten der einzelnen Länder sehr. Dass in der Entwicklung nach 1989 vieles länger dauert, haben wir erst später Schritt für Schritt einsehen müssen. Inzwischen gibt es leider recht große Unterschiede zwischen den Bevölkerungen. Mitteldeutschland hat seit der Wiedervereinigung mehr als vier Millionen Menschen verloren. Das hat zu einer Änderung der Bevölkerungszusammensetzung und des Verhaltens geführt. Der Ausgang der Bundestagswahl hat das gerade wieder gezeigt.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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