Debatte

Soziologe Steffen Mau: „Die Ost-Identität war immer da"

Die AfD versucht, aus Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland einen Kulturkampf zu machen, sagt der Soziologe Steffen Mau. Er rät dazu, Unterschiede anzuerkennen und macht einen Vorschlag für mehr Bürger*innenbeteiligung.

von Kai Doering · 20. September 2024
Steffen Mau ist Soziologe für Makrosoziologie am Institut fuer Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

Steffen Mau ist Soziologe für Makrosoziologie am Institut fuer Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen Anfang September war vielfach von einem „Beben“ die Rede. Hat Sie das starke Abschneiden von AfD und BSW überrascht?

Nein, ich habe es eher erwartet. Überrascht hat mich, wie präzise die Vorhersagen in den Wochen davor gewesen sind.

Wie erklären Sie sich das Ergebnis?

Die AfD hat schon seit Monaten und zum Teil seit Jahren hohe Zustimmungswerte in Ostdeutschland, insbesondere in Sachsen und in Thüringen. Sie gilt zwar in beiden Bundesländern als gesichert rechtsextrem, aber offenbar gibt es genügend Menschen, die das nicht abschreckt. Zum Teil geben sie der AfD ihre Stimme, weil sie ihr rechtsextremes Weltbild teilen, zum Teil aber auch aus Frust und Unzufriedenheit. So etwas zahlt immer bei einer populistischen Partei ein – was sich auch beim BSW bemerkbar macht. Als Stand-up-Partei konnte das BSW aus dem Nichts eine große Anzahl Wähler*innen mobilisieren. Sie spricht vor allem Menschen an, die gesellschaftspolitisch konservativ und umverteilungspolitisch progressiv eingestellt sind. Beim BSW kommt noch ein Schuss Nostalgie hinzu: Viele Wähler*innen verklären das industriegesellschaftliche Modell der Bundesrepublik der 1970er Jahre mit einer geschlossenen Volkswirtschaft und starken Sozialpartnern. Das ist in Ostdeutschland offenbar sehr anschlussfähig.

Die AfD gilt mittlerweile bei vielen als die Partei, die ostdeutsche Interessen am besten vertritt. Können Sie das nachvollziehen?

Ich kann nachvollziehen, warum man die Vertretung ostdeutscher Interessen politisch ausbeutet. Das Thema lag lange brach, da die etablierten Parteien einen großen Bogen um diese Art Ostbewusstsein gemacht haben. Das Thema galt zum einen kontaminiert durch die DDR-Diktatur. Zum anderen wollte man es auch nicht verstärken, da die Ost-West-Differenz ja überwunden werden sollte. Trotzdem war die Ost-Identität immer da. Sie hat sich über die Zeit gewandelt und artikuliert sich jetzt neu, auch in einer Art Trotz-Mentalität. Das hat die AfD in den Landtagswahlkämpfen sehr geschickt bespielt und der Linkspartei als Vertretung des Ostens den Rang abgelaufen. Sie bespielt die Ost-West-Differenz allerdings im Sinne eines Kulturkampfs.

Wie meinen Sie das?

Der Westen symbolisiert in der Erzählung der AfD einen zu laschen Umgang mit der Migration, ein dekadentes Männer- und Familienbild und ähnliches. Der Osten wird demgegenüber als Gegenbild konstruiert und als Bollwerk gegen all die Entwicklungen, die die AfD ablehnt. Ergänzt wird das durch eine antiwestliche und zum Teil antiamerikanische Haltung. Das BSW versucht übrigens ganz ähnlich, die Ost-West-Differenz in einen größeren Meta-Konflikt einzuspannen.

Wie sollte „der Westen“ darauf reagieren?

Jedenfalls nicht so überhysterisch wie es im Moment der Fall ist. Ich kann zwar den Impuls verstehen, dass man sich im Westen fragt, wie man mit dem aufkeimenden Nationalismus und dem antiliberalen Ressentiment in manchen Teilen Ostdeutschland umgehen soll. Da geht dann die eine oder andere Wortmeldung auch mal daneben. Ich warne aber davor, das alles als Ost-West-Konflikt zu interpretieren, denn der Umgang mit der AfD ist auch ein Ost-Ost-Konflikt. Weit mehr als die Hälfte der Ostdeutschen wählt nach wie vor demokratische Parteien und versucht, sich dem Rechtsruck entgegenzustemmen. Denen fällt man mit Pauschalurteilen über „den Osten“ ganz klar in den Rücken. Denn klar ist: Diese Ost-Ost-Auseinandersetzung muss geführt werden.

In Ihrem Buch „Ungleich vereint“ schreiben Sie von einem „Gefühl der Nichteinbezogenheit“ in politische Entscheidungen und von einer „Veränderungsmüdigkeit“ der Ostdeutschen. Wie lässt sich das ändern?

Die Veränderungsmüdigkeit ist sicher ein Ergebnis der großen Umwälzungen, die die Menschen in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung erlebt haben. Daraus lässt sich ein Grund für die Gegenwehr gegen alle empfundenen oder realen Zumutungen, sei es beim Heizen oder bei der Zuwanderung, ableiten. Hinzu kommt, dass die Interessenvermittlung über Parteien in Ostdeutschland nicht gut funktioniert, weil sich Parteien dort bisher nicht im Ansatz so etabliert haben wie im Westen. Auch das Vereinswesen ist in dieser Hinsicht viel schwächer ausgeprägt. Das führt zu einem Gefühl, dass alles gut und schön ist, solange der Staat die eigenen Interessen bedient. Ist das nicht der Fall, wird ihm gleich ganz grundsätzlich die Legitimation abgesprochen. Eine Chance, demokratische Entscheidungen so zu treffen, dass sich auch das Gros der Menschen damit identifizieren kann, sehe ich deshalb in mehr direkter Beteiligung.

Steffen Mau,
Soziologe

Ich warne aber davor, das alles als Ost-West-Konflikt zu interpretieren, denn der Umgang mit der AfD ist auch ein Ost-Ost-Konflikt.

Also mehr Volksabstimmungen?

Ich würde weniger auf plebiszitäre als vielmehr auf deliberative Möglichkeiten setzen. Mein Vorschlag sind daher Bürgerräte, wie sie ja von der Bundesregierung bereits zur Frage der Zukunft der Ernährung ins Leben gerufen wurden. Sie sind nicht als Ersatz der Parteien und der repräsentativen Demokratie zu verstehen, sondern als Ergänzung. Praktisch würde es so ablaufen, dass Menschen per Losverfahren für diese Räte ausgewählt werden und dann versuchen, zu vorher festgelegten politischen Fragen Kompromisse und Lösungen zu finden. Ein Vorteil der Bürgerräte wäre, dass sie relativ immun sind gegen jegliche Form der Elitenkritik, weil die Entscheidungen aus der Mitte der Gesellschaft kommen.

Aber besteht dann nicht die Gefahr, falsche Erwartungen zu wecken, wenn am Ende doch gewählte Politiker*innen entscheiden?

Die Bürgerräte dürfen natürlich keine Beteiligungsillusion sein. Die Parteien sind schon verpflichtet, die Vorschläge des Gremiums aufzugreifen und in dessen Sinne zu entscheiden. Ansonsten führt das zu zusätzlicher Frustration und im schlimmsten Fall einer Radikalisierung. Ganz praktisch könnte man zum Beispiel eine Befassungspflicht für die Parlamente mit den Vorschlägen von Bürgerräten in die Landesverfassungen aufnehmen. Ein etwas radikalerer Ansatz wäre, Bürgerräte zu einer Art dritten Kammer zu machen, in der gewählte Volksvertreter*innen und ausgewählte Bürger*innen vertreten sind und gemeinsam verbindliche Entscheidungen treffen. Für Bürgerräte müssten wir übrigens nicht gleich unser ganzes politisches System umbauen. Wir könnten das erstmal laborartig testen und die Räte dann in die Fläche ausrollen.

Auch nach Westdeutschland?

Natürlich. Wenn sich die Bürgerräte bewähren, sollten sie nicht exklusiv Ostdeutschland vorbehalten sein. Nach der Wiedervereinigung waren Impulse von Ost nach West ja nicht gewünscht. Das könnte man auf diese Weise etwas nachholen. Ostdeutschland könnte damit zum Experimentierfeld für die gesamte Bundesrepublik als einer lernenden Demokratie werden.

„Warum der Osten anders bleibt“, heißt es im Untertitel Ihres Buches. Von einer Angleichung an den Westen, wie sie lange angestrebt wurde, wollen Sie also gar nicht sprechen. Wäre der 35. Jahrestag des Mauerfalls vielleicht ein guter Zeitpunkt, diese Unterschiede einfach anzuerkennen?

Wir sollten zumindest aufhören, einer Chimäre hinterherzulaufen. Bayern ist nicht so wie Niedersachsen und das finden auch alle richtig so. Zudem gibt es Dinge, bei denen sich der Osten gar nicht an den Westen angleichen sollte, bei der Abdeckung mit Kita-Plätzen etwa oder bei der Theater-Dichte. Bei den gleichen Lebenschancen dagegen sollten wir keine Abstriche machen und dem Auftrag des Grundgesetzes treu bleiben. Und auch was die Frage der Demokratie angeht, möchten wohl nur die wenigsten einen Absturz in autoritäre Strukturen. Insofern rate ich in manchen Bereichen zu mehr Gelassenheit und in anderen dazu, notwendige politische Auseinandersetzung auch zu führen.

Das Buch:

Steffen Mau: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt, Suhrkamp 2024, 18 Euro, ISBN 978-3-518-02989-3

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

Weitere interessante Rubriken entdecken

Noch keine Kommentare
Schreibe einen Kommentar

Eingeschränktes HTML

  • Erlaubte HTML-Tags: <a href hreflang> <em> <strong> <cite> <blockquote cite> <code> <ul type> <ol start type> <li> <dl> <dt> <dd> <h2 id> <h3 id> <h4 id> <h5 id> <h6 id>
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.