„Green Border“: Schockierendes Drama über Geflüchtete im Osten der EU
An der Grenze zwischen Polen und Belarus spielt sich seit Jahren ein Flüchtlingsdrama ab. Agnieszka Hollands neuer Kinofilm betrachtet das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln. Ein packender und mutiger Appell an die Menschlichkeit.
Agata Kubis
Elend im Grenzwald mitten in Europa: Amina (Dalia Naous) und ihre Familie kämpfen ums Überleben.
Grün, soweit das Auge reicht. Endlos sind die Wälder an der Grenze zwischen Belarus und Polen. Ein Raum für Mythen und Fantasie. Seit Herbst 2021 herrscht dort allerdings realer Horror. Immer wieder versuchen Geflüchtete „irregulär“, wie es im Amtsdeutsch heißt, die Außengrenze der EU zu überschreiten. Polnische Grenzbeamte treiben sie zurück nach Belarus. Von dort werden sie wieder Richtung Polen geschickt. Ein menschenfeindliches und entmenschlichtes Ping-Pong-Spiel.
Der belarussische Diktator Alexander Lukashenko hatte seinerzeit das Chaos losgetreten, indem er Menschen aus Krisenregionen mit falschen Versprechungen in sein Land lockte und an dessen Westgrenze karren ließ, um Druck auf die Europäische Union auszuüben.
Seitdem starben 55 Menschen bei dem Versuch, über die ehemalige „grüne Grenze“ gen Westen zu gelangen. Rund 300 werden vermisst. Auch, weil polnische Grenzer*innen systematisch die Menschenrechte der Migrant*innen missachten. Was sich in jenen Wäldern abspielt, kratzt gewaltig an der angeblichen moralischen Autorität Europas.
Aktivismus trifft Kunst
Schnell war für die polnische Regisseurin Agnieszka Holland klar, dass sie über diesen Skandal einen Film machen muss. Um einer breiten Öffentlichkeit die Lage am östlichen Rand der EU bewusst zu machen. Aber auch, um über diesen Schauplatz hinaus den Umgang mit Geflüchteten zu thematisieren. So gesehen ist ihr neuer Film eine einzige Anklage, in der Aktivismus und Kunst ineinander übergehen.
Einmal mehr liefert die mehrfach oscarnominierte Filmemacherin ein beeindruckendes und bewegendes Werk ab. „Green Border“ macht sprachlos, wütend und ratlos. Weil der Film genau hinsieht, niemanden schont und es sich bei aller Eindeutigkeit der Menschenverachtung in keinem Moment (zu) einfach macht.
Im Ausnahmezustand befindet sich nicht nur das Grenzgebiet, sondern auch die Protagonist*innen. Agnieszka Holland, die auch am Drehbuch mitgearbeitet hat, lässt dem Publikum kaum eine Atempause.
Der Film betrachtet die Situation aus dreierlei Perspektiven. Nur knapp ist eine Familie den Repressionen im umkämpften Syrien entronnen. Über Polen wollen Großvater, Vater, Mutter und drei Kinder von Belarus nach Schweden weiterreisen. Doch in dem sumpfigen Dickicht an der Grenze scheint der Traum von Amina, Bashir und ihren Lieben zu scheitern. Belarussische Grenzbeamte bringen sie um ihr letztes Geld und auch die polnische Seite gibt sich gnadenlos.
Aufgestachelt von der Regierung
Derweil werden polnische Männer und Frauen in Uniform auf ihren Dienst an der Sperranlage vorbereitet. Die Vorgaben des Innenministeriums der früheren rechtskonservativen PiS-Regierung sind klar: Die entkräfteten Gestalten im Niemandsland sind „Geschosse“ Lukashenkos und Putins, um Polen zu destabilisieren – also sicherlich keine Menschen.
Doch nicht bei allen verfangen diese Vorgaben. Dem Grenzbeamten Jan setzt das repressive Vorgehen zu und so manche Gewissheit gerät ins Wanken.
Schnell macht das kalkuliert barbarische Vorgehen die Runde und es regt sich Widerstand. Aktivist*innen begeben sich in die Wälder am Rande der „verbotenen Zone“ entlang der Grenze und versorgen Ankommende mit dem Nötigsten.
Fast zufällig stolpert Julia in dieses Engagement hinein. Zurückgezogen lebt die Psychotherapeutin in einem Haus nahe der Grenze. Unverhofft wird ihr bewusst, was sich nahe ihrem Gartenzaun abspielt. Mit aller Kraft stürzt sie sich in die Arbeit und geht dabei weiter, als es manch einer erfahrenen Aktivistin lieb ist. Stets im Visier der Sicherheitskräfte, die das Tun der Freiwilligen nach Kräften kriminalisieren.
Raum für Hoffnung
An verschiedenen Orten laufen diese drei Erzählfäden zusammen. Menschen sterben, werden drangsaliert oder verschwinden plötzlich aus der Handlung. Sie überlisten Polizisten oder überwinden bisherige moralische Schranken. Daraus zieht der Film seine hoffnungsvolle, wenn nicht gar utopische Wirkung. Beides findet in diesem psychologisch komplexen Gesamtbild seinen Raum.
Monatelang haben Agnieszka Holland und ihre Co-Autor*innen mit Menschen vor Ort gesprochen. Auf dieser Grundlage entstand ein Film, der seine Kraft auch aus seiner dokumentarischen Substanz zieht. Auf der anderen Seite wird auch immer wieder deutlich, dass es sich um eine Fiktionalisierung des realen Geschehens handelt. Das Manifest für Humanität lebt nicht nur von der klaren Haltung und dem schonungslosen Blick, sondern auch von starken Geschichten
Agnieszka Hollands Film gibt seinen Protagonist*innen ein Gesicht, auch in all ihren Widersprüchen. Insbesondere Julia (Maja Ostachewska) und Jan (Tomasz Włosok) bieten interessante Charakterstudien über Menschen, die in dieser zugespitzten Situation denkbar konträre Seiten verkörpern.
Blick in den Abgrund
Von der kürzlich abgewählten PiS-Regierung wurde Agnieszka Holland für diesen Film massiv angefeindet. Zeitweilig stand sie unter Personenschutz. Auch sie wird wohl darauf hoffen, dass die neue Führung unter Donald Tusk ihre Flüchtlingspolitik korrigiert, so wie es Nichtregierungsorganisationen kürzlich in einem offenen Brief an den Premier gefordert haben. „Green Border“ macht deutlich, warum drei Autostunden östlich von Warschau nicht nur Polen in einen Abgrund blickt.
„Green Border“ (Polen, Tschechien, Frankreich, Belgien 2023), Regie: Agnieszka Holland, Drehbuch: Agnieszka Holland, Gabriela Lazarkiewicz-Sieczko, Maciej Pisuk, mit Jalal Altawil, Maja Ostaszewska, Tomasz Włosok, Behi Djanati Atai u.a., OmU, 147 Minuten, ab zwölf Jahre.
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Im Kino
wer es immer noch nicht begriffen hat, wir
müssen alle Anstrengungen unternehmen, um den schutzsuchenden Männern aus aller Welt einen sicheren Herzug zu ermöglichen, der Ihnen solche Qualen und Strapazen erspart. Brauchen wir Besiedelung oder nicht? Wir brauchen sie, dass ist doch nun schon mehr als eine Binsenwahrheit. Daran gibt es doch keine ernsthaften Zweifel.