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GEAS-Reform: Kann das europäische Asylsystem gerechter werden?

Welche Vorteile, aber auch Kritikpunkte die Vorschläge zur Reform des europäischen Asylsystems mit sich bringen, darüber diskutieren die SPD-Europabeauftragte Katarina Barley und Stella Kirgiane-Efremidou von der AG Migration und Vielfalt.
von Jonas Jordan · 4. Juli 2023
Alltag in einem Flüchtlingslager auf Lesbos.
Alltag in einem Flüchtlingslager auf Lesbos.

Katarina Barley, nach Jahren des Stillstands haben sich die EU-Mitgliedsstaaten auf eine gemeinsame Position zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt. Ist das grundsätzlich erst mal ein Erfolg?

Barley: Aus Parlamentssicht schon. Denn das ist der Startschuss dafür, dass sich überhaupt etwas bewegt. Und so, wie der Zustand im Moment ist, darf er nicht bleiben. Die Kommission hat einen Vorschlag vorgelegt, der innerhalb der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament auf viel Kritik gestoßen ist. Aber solange es keine Position des Rates gab, konnten wir nicht verhandeln. Wir als Parlament haben unsere Position schon im April beschlossen, die anders aussieht als die des Rates. Nach dem Beschluss des Rates können wir endlich in Verhandlungen miteinander treten.

Stella Kirgiane-Efremidou, Sie sind Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt in der SPD, die die Einigung deutlich kritisiert hat. Was sind Ihre größten Kritikpunkte?

Kirgiane-Efremidou: Fast alles an diesem Kompromiss ist kritikwürdig für uns. Wir fallen damit zurück in eine Abwehrhaltung gegenüber Menschen, die fliehen müssen. Die meisten beschlossenen Punkte treffen insbesondere die Schwächsten: Frauen, Kinder und vulnerable Gruppen. Am allermeisten stört uns, dass man damit den Rechtspopulisten und Rechtskonservativen fast alle Punkte geschenkt hat. Die humanitären Rechte, unsere Grundhaltung in der EU, was Menschenrechte, Kinderrechte und Flucht angeht, wurden dagegen vergessen. Das haben wir auch in unseren Erklärungen deutlich gemacht, die von vielen Genossinnen und Genossen unterschrieben wurden. Menschen, die sich seit Jahren für Schutzsuchende einsetzen und jetzt das Gefühl haben, sie werden gnadenlos im Stich gelassen.

Innerhalb der SPD gab es teils heftige Kritik bis hin zu Parteiaustritten. Was würden Sie Mitgliedern sagen, die nun mit einem Austritt liebäugeln?

Kirgiane-Efremidou: Wir hatten innerhalb unserer AG in den ersten 24 Stunden heftige Diskussionen mit Mitgliedern aus vielen Bundesländern, die aus der SPD austreten wollten. Wir haben es durch Gespräche geschafft, dass die meisten nicht ausgetreten sind. Mein Credo ist: Man ist entweder Sozialdemokratin oder man ist es nicht. Wenn man Sozialdemokratin ist, setzt man sich auch für die Grundwerte ein, für die unsere Partei steht. Wenn wir sehen, dass irgendwas in die falsche Richtung läuft, ist der Austritt der falscheste Weg. Dann muss man erst recht dabeibleiben, um die Dinge wieder in die richtige Richtung zu drehen.

Barley: Das kann ich nur unterschreiben. Ich habe 1993 mein erstes juristisches Staatsexamen gemacht. Das war das Jahr des sogenannten Asylkompromisses. Ich habe danach beim damaligen ‚Grundrechtepapst‘ meine Doktorarbeit geschrieben und mich intensiv mit Asylrecht befasst. Die Konsequenz daraus war für mich, 1994 in die SPD einzutreten, um von innen zu verändern. Ich wurde dann sofort bei den Jusos Rheinland-Pfalz für den Bereich Asyl und Flucht in den Landesvorstand kooptiert.

Aus meiner Sicht sollte man jetzt auch deswegen nicht aus der Partei austreten, weil es keine Entscheidung der SPD war. Es war eine Entscheidung des Europäischen Rates. Und den können wir leider nicht nach unseren Vorstellungen zusammenstellen. Von den 27 EU-Mitgliedsstaaten wollten 17 das sogenannte Ruanda-Verfahren, also alle Menschen einfach in einen Drittstaat schicken und dort die Asylverfahren durchführen. Uns kippt im Moment eine Regierung nach der anderen nach rechts weg, Italien, Schweden, Finnland. Wenn wir Pech haben, droht das auch in Spanien. In Frankreich könnte Marine Le Pen die nächste Präsidentin werden. Das bedeutet, wenn wir jetzt keine Entscheidung im Rat treffen, weil zum Beispiel Deutschland dagegen stimmt, dann werden wir es wieder neu versuchen müssen und es wird mit Sicherheit nicht besser werden. Das Gleiche gilt für das europäische Parlament. Im Moment sind die Voraussetzungen schon nicht so toll, aber sie werden schlechter.

Gleichzeitig darf der Zustand, wie er jetzt ist, nicht so bleiben, dass Menschen von Grenzkräften ins Meer zurückgeschoben und ihre Schlauchboote zerstört werden, sodass sie dort ertrinken. Wir hatten in Griechenland gerade wieder mehr als 700 Todesopfer zu beklagen. Es gibt Lager wie in Moria, wo die Geflüchteten über Jahre ohne Gesundheitsversorgung unter schlimmsten Bedingungen leben mussten. Wie kommen wir von solchen Zuständen weg? Für mich ist die einzige Möglichkeit, dass die Ankunftsstaaten wissen, sie werden nicht allein gelassen. Denn das war der Konstruktionsfehler vom Dublin-Abkommen. Wie können wir da hinkommen, dass die anderen Staaten solidarischer sind? Das können wir nur schaffen, indem diese Länder nicht mehr diejenigen zugewiesen bekommen, bei denen sowieso klar ist, dass sie keinen Anspruch auf Asyl haben werden. Anders werden wir das nicht hinkriegen. Ich hätte es lieber anders. Aber wenn wir das nicht ändern, werden wir niemals zu einer solidarischen Verteilung kommen.

Kirgiane-Efremidou: Aber Katarina, sei ehrlich, glaubst du wirklich, dass es durch diesen Kompromiss zu einer solidarischen Verteilung kommen wird? Schon jetzt gibt es Länder wie Polen oder Ungarn, die angekündigt haben, auch die finanziellen Ausgleichszahlungen von 20.000 Euro pro nicht aufgenommene geflüchtete Person boykottieren zu wollen. Was machen wir denn, wenn sie nicht bezahlen?

Die Menschenrechtsverletzungen in Europa finden seit Jahren statt. Es blutet mir das Herz, wenn ich sehe, dass selbst mein Wurzelland Griechenland eines der schlimmsten Länder geworden ist, was Push-Backs angeht. Menschen ertrinken und die Europäische Kommission kümmert sich einfach nicht darum. Mir fehlt im Moment die Fantasie, was sich nun verbessern soll. Moria ist doch das beste Beispiel. Alle haben die Zustände angeprangert. Nach dem großen Brand hat Griechenland viel Geld von der EU erhalten, um das Lager wiederaufzubauen. Doch es ist immer noch nicht fertig. Die Menschen leben immer noch im Schlamm. Seit Monaten bekommen diejenigen, die erwiesenermaßen kein Recht auf Asyl haben, noch nicht einmal Essen. Sie können aber auch nicht ausreisen. Europa hält sich raus.

Das, was wir im Ampel-Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, dass wir Dublin überwinden wollen, dass wir die Länder nicht allein lassen und bessere Standards für Schutzsuchende haben wollen und dass die Asylanträge schneller und rechtsstaatlich geprüft werden sollen, das haben wir in den letzten Jahren nicht geschafft. Und ausgerechnet jetzt, da SPD und Grüne in der Regierung sind, hat man sich auf einen solchen Kompromiss eingelassen, bei dem uns Migrationsforscher heute schon sagen, dass er uns in der Zukunft humanitär und monetär teuer zu stehen kommen wird. Er wird wieder nur den Rechten in die Hände spielen, aber dem solidarischen Zweck nichts bringen. Und am meisten hat uns gestört, dass man sich auch noch für einen historischen Erfolg gefeiert hat, der so schlecht ist, dass wir eigentlich jetzt schon mit Katerstimmung dastehen. Alles, was jetzt noch gemacht wird, ist nur noch ein Herumdoktern, aber eine große Verbesserung wird im Trilog nicht zustande kommen können.

Barley: Du warst auch bei der Diskussion im Parteivorstand mit dabei. Ich fand nicht, dass dort der Eindruck entstanden ist, das sei alles ganz toll. Da kam schon rüber, dass wir etwas anderes gewollt hätten. Auch die Resolution, die wir im Parteivorstand beschlossen haben, fand ich nicht jubelnd. Ich jubele ganz sicher nicht. Doch dagegen zu stimmen ist für mich die absolut letzte Option. Denn das würde bedeuten, dass alles so schlimm bleibt – in Moria wie auf dem Mittelmeer. Ich habe auch mit Einheimischen gesprochen, die auf Lesbos leben. Sie haben mir berichtet, dass sie von der EU allein gelassen werden, wenn sie den Geflüchteten in Moria helfen. Ähnliches habe ich auch in Sizilien wahrgenommen.

Die solidarische Verteilung soll mindestens 30.000 Personen pro Jahr betreffen. Das sind aber nur diejenigen, die ins Grenzverfahren gehen und einen Anspruch auf Asyl beziehungsweise ein Bleiberecht haben. Wer aus Ländern mit hoher Bleibeperspektive kommt, geht gar nicht erst in dieses Grenzverfahren. Wenn Länder wie Polen oder Ungarn sich deren Verteilung verweigern und die finanzielle Ausgleichszahlung nicht leisten wollen, wird das Geld einfach einbehalten. Das passiert jetzt schon in anderen Zusammenhängen. In der Durchführung ist das kein Problem.

Kirgiane-Efremidou: Als ein Argument für die Reform wird momentan immer wieder angeführt, diejenigen Länder entlasten zu wollen, die momentan so viele Menschen aufnehmen. Wenn sich die anderen Länder aber freikaufen, haben diejenigen Länder aber weiterhin eine große Last zu tragen. Auch bei den Anerkennungsquoten ist die Berechnung noch nicht korrekt ausgearbeitet. Da sind noch so viele Fragen offen, bei denen ich dich frage: Kommen die tatsächlich im Trilog alle zur Sprache? Und hast du das Gefühl, dass sich in diesen elementaren Punkten etwas ändern wird?

Katarina Barley, was ist denn inhaltlich noch möglich in den Verhandlungen?

Barley: Die Positionen des Parlaments und des Rats sind in Beschlüssen festgelegt. Mit denen geht man in die Verhandlungen. Dort muss dann ein Kompromiss zwischen beiden Positionen gefunden werden. Laut der Ratsposition sollen unbegleitete minderjährige Geflüchtete nicht in das Grenzverfahren kommen, aber Familien mit Kindern sind bisher nicht ausgenommen. Das ist im Parlamentsbeschluss anders. Da sind auch Familien mit Kindern bis zu zwölf Jahren ausgenommen. Ich gehe fest davon aus, dass das eine sehr harte Position des Parlaments sein wird.

Wie optimistisch sind Sie, dass diese vor der Europawahl im kommenden Jahr abgeschlossen werden können?

Barley: Das ganze Asylpaket besteht aus fünf Teilen, vier davon sind schon im Trilog – also der Verhandlung zwischen Parlament und Rat – bei einem fehlt noch die Ratsposition. Wir wollen das Ganze gerne im Paket verabschieden. Sonst droht die Gefahr, dass sich bestimmte Länder ihre Rosinen rauspicken. Wir müssen die Verhandlungen bis Ende des Jahres abschließen. Die Beschlüsse müssen anschließend übersetzt und rechtlich geprüft werden, damit wir im Februar oder März final im Parlament darüber abstimmen können. Ich werde nicht jedem Beschluss zustimmen, sondern sehr genau schauen, was dadurch besser wird und ob wir die Chance bekommen, Zustände wie in Moria künftig zu verhindern.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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