Geschichte

Vom Außenseiter zum Übervater: Wie Willy Brandt wurde, wer er war

Vor 110 Jahren wurde Willy Brandt geboren. Wegen seiner politischen Erfolge und wegen seines Charismas ist er bis heute unvergessen. Dabei war seine politische Karriere alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

von Peter Merseburger · 18. Dezember 2023
Der Vater, den er selbst niemals hatte: Willy Brandt mit Sohn Matthias 1967
Der Vater, den er selbst niemals hatte: Willy Brandt mit Sohn Matthias 1967

Im Rückblick erscheinen Willy Brandts Jahre an der Spitze der SPD als geradezu goldene Zeit: Er führte seine Partei an die Macht und läutete jenes sozialdemokratische Jahrzehnt ein, in dem die Sozialdemokratie 13 Jahre den Kanzler stellte, innenpolitische Reformen durchsetzte und mit ihrer Ost- und Entspannungspolitik eine wichtige Grundlage für die spätere deutsche Vereinigung schuf.  Das Wort „Mehr Demokratie wagen“ in Brandts erster Regierungserklärung als Kanzler steht für eine Politik der Erneuerung, sein Kniefall in Warschau macht ihn  zur moralischen Autorität in der Politik und wird mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

Proletariersohn ohne heile Familie

Seine Erfolge und sein Charisma erklären, dass er 23 Jahre – fast ein Vierteljahrhundert – den SPD-Vorsitz innehat; länger als er hat vor ihm nur August Bebel die SPD geführt. Was das in einer Partei bedeutet, die den Diskurs und harte Diskussionen zwischen den Flügeln pflegt, macht ein Blick auf seine Nachfolger deutlich: In den 22 Jahren nach Brandt hat die SPD neun Vorsitzende. Nun ist Willy Brandt, und das mag seine lange unumstrittene Führungsrolle auch erklären, der letzte Parteichef, der aus der alten Arbeiterbewegung kommt und die für ihn, den Proletariersohn ohne heile Familie, zu einer Art Familienersatz wird – auch im skandinavischen Exil. 

Genoss*innen der norwegischen Arbeiterpartei nehmen den jungen, revolutionären Linkssozialisten aus Lübeck wie einen der ihren auf. Durch diese betont linke Partei wird er nachhaltig geprägt, denn bei allen Flügelkämpfen bewahrt sie stets die Einheit der Organisation, und ihr revolutionäres Programm hindert sie nicht an einer pragmatischen Regierungspolitik, welche die realen Nöte der Arbeiter*innen, Fischer*innen und Bäuer*innen lindern kann. In diesen Erfahrungen wurzelt seine innerparteiliche Toleranz, aber auch seine tiefe Überzeugung, dass Politik, die nicht den Menschen nützt, nichts taugt.

Brandts Weg in der SPD war steinig

Im Exil zum Sozialdemokraten gewandelt, ist der Weg zum „Übervater“ der Partei jedoch steinig und lang: In Berlin hat Willy Brandt gegen SPD-Chef Franz Neumann zu kämpfen, und als Erbe Ernst Reuters, der schon wegen der Lage West-Berlins ein gutes Verhältnis zu Amerika pflegt, gilt er lange als Außenseiter in der von Ollenhauer auf Schumacher-Kurs gehaltenen SPD. Noch 1960, als er in Hannover zum Kanzlerkandidaten gewählt wird, kann er lediglich auf Platz 22 in den Parteivorstand einziehen. 

Von Herbert Wehner gefördert, rückt Brandt nach Ollenhauers Tod an die Spitze der Partei und wird schließlich zum großen Integrator, der die Realistischeren unter den studentischen 68er-Rebellen einbindet. Stets dem Zeitgeist aufgeschlossen und dem Gros der Partei darin voraus, sucht er später die Sozialdemokratie für die Friedens- und Umweltbewegung zu öffnen und, beinahe präsidial über den Flügeln schwebend, sie als Partei dennoch zusammenzuhalten. Der Spagat ist nicht leicht, selbst sein alter Freund Rix Löwenthal versteht die SPD als Partei der Industriegesellschaft und wendet sich gegen die Aufnahme von grünen Leistungsverweigerern, die gar Nullwachstum fordern.

Mit Autorität für die schnelle Vereinigung

Als Willy Brandt 1987 als weiteres Zeichen der Öffnung gar eine Parteilose zur Sprecherin der SPD bestellen will, löst er eine Parteirebellion aus, die ihn zum Rücktritt veranlasst. Doch bleibt er Ehrenvorsitzender. 1989, als er die junge Generation der Sozialdemokraten vor der nationalen Frage versagen sieht, setzt er sich mit seiner ganzen Autorität für die schnelle Vereinigung ein. Er rettet damit die Tradition und Ehre einer Sozialdemokratie, die schon unter Kurt Schumacher für die deutsche Einheit kämpfte. 

Der Text erschien am 18. Dezember 2012.

Autor*in
Peter Merseburger

Peter Merseburger († 15. Februar 2022) wurde von 1967 bis 1975 bekannt als Leiter und Moderator des ARD-Magazins Panorama. Er schrieb die erste große Willy-Brandt-Biografie.

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2 Kommentare

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Di., 19.12.2023 - 10:41

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"Er rettet damit die Tradition und Ehre der Sozialdemokratie" - schade, dass Peter Merseburger nichts mehr zur heutigen SPD sagen kann.

Gespeichert von Peter Boettel (nicht überprüft) am Mi., 20.12.2023 - 09:39

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Leider verlassen uns nach und nach unsere großen Vorbilder, und wer rückt nach?

Dennoch hoffe und glaube ich, dass die SPD nach vielen Krisen und sogar Verboten aufgrund ihrer 110-jährigen Geschichte und Grundsätze sich immer wieder aufrichtet, und dass es auch wieder Persönlichkeiten gibt, zu denen wir Vertrauen haben können. Ich zähle z.B. Rolf Mützenich und Norbert Walter Borjans dazu.

Trotz gelegentlicher Austrittsgedanken, vor allem während der Ägide von Sigmar Gabriel, bleibe ich nach nunmehr über 50 Jahren Mitgliedschaften der SPD treu.