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Regierungsbildung in Frankreich: Verspielt die Linke ihren Wahlsieg?

Wer wird künftig das Land regieren? Diese Frage bewegt ganz Frankreich seit dem Wahlabend am 9. Juli.  Präsident Macron ist angeschlagen und geschwächt. Gleichzeitig gibt es keine regierungsfähige Mehrheit im Parlament. Und die Linke beschäftigt sich mit sich selbst.

von Kay Walter · 19. Juli 2024
Kann sie Ministerpräsidentin Frankreichs werden? Laurence Tubiana im Juni 2020

Kann sie Ministerpräsidentin Frankreichs werden? Laurence Tubiana im Juni 2020

Die Situation ist ein Novum für Frankreich, dessen politisches System auf eindeutige Mehrheiten ausgerichtet ist. Nach der Parlamentswahl vom 8. Juli braucht es geschickte Verhandlungen, um eine neue Regierung zu bilden. Doch darin haben französische Parteien wenig Übung. Das beweist sich jeden Tag aufs Neue. Risse und Friktionen treten in sämtlichen Lagern deutlich zutage. Im Zentrum immer zwei Fragen: Wer kann und will mit wem sprechen? Und wer sichert sich die entscheidenden Machtpositionen? Ausgemacht ist noch gar nichts, auch nicht hinter verschlossenen Türen.

Das Linksbündnis NFP zerstreitet sich mehr und mehr

Im zweiten Anlauf hat Präsident Emmanuel Macron den Rücktritt seines Premiers akzeptiert. Gabriel Attal ist nur noch geschäftsführend im Amt, zugleich aber neuer Fraktionschef der Präsidentenpartei im Parlament. Das Tischtuch zwischen beiden Männern scheint zerschnitten, zu unterschiedlich sind ihre Vorstellung zur Regierungsbildung.

Das Linksbündnis NFP zerstreitet sich von Tag zu Tag mehr. Nur sehr mühsam ist es ihr gelungen, in die konstituierende Sitzung der Nationalversammlung mit einem gemeinsamen Vorschlag zu gehen, wer zu deren Präsident gewählt werden sollte. Ansonsten haben sich Sozialisten, Kommunisten, Grünen und der linksradikale LFI wieder in unterschiedliche Fraktionen aufgeteilt – und dafür direkt die Quittung bekommen.

Ihr Kandidat, der 74-jährige Kommunist André Chassaigne aus Puy-de-Dôme, im Übrigen Vorstand der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung, erhielt nicht die notwendigen Stimmen. Stattdessen wurde überraschend Yaël Braun-Pivet aus dem Macronlager mit 13 Stimmen Vorsprung wiedergewählt. Im dritten Wahlgang, in dem die einfache Mehrheit ausreicht, votierten nicht nur die eigenen Abgeordneten für Braun-Pivet, sondern auch die bürgerliche Rechte der Republikaner.

Macron wird niemanden vom LFI zum Ministerpräsidenten ernennen

Hier beweist sich das grundsätzliche Dilemma der Linken. Zusammengenommen stellt sie zwar die stärkste Gruppe – und schon das Zusammenkommen bereitet arge Probleme – aber bleibt rund hundert Stimmen unterhalb der absoluten Mehrheit. Schwerer wiegt, dass sie nicht kompromiss- und anschlussfähig zu anderen Parteien ist. Sie kann keine zusätzlichen Stimmen organisieren, zumindest nicht solange, wie sie sich in babylonischer Gefangenschaft von Mélenchons LFI befindet.

Vom ersten Nachwahltag an, torpediert Mélechon jedwede Einigung, indem er kategorisch einfordert, der nächste Premier müsse vom LFI kommen. Darauf habe er, Mélechon, ein Anrecht. Worin das bestehen soll, bleibt sein Geheimnis. Ja, der LFI ist die größte Gruppe innerhalb der Linken, aber nur ganz knapp vor den Sozialisten. Und für sich genommen, verfügt der LFI über 71 Mandate, ist bestenfalls drittstärkste Gruppe im Parlament. Und auch die gesamte Linke als Einheit, wenn sich die denn herstellen ließe, verfügt über keine ausreichende Mehrheit.

Klar ist: Macron wird niemanden mit LFI-Parteibuch zum Premier bestimmen. Weder gibt es dafür eine demokratische Notwendigkeit, noch wäre diese Person jemals in der Lage, eine parlamentarische Mehrheit für welches Gesetz auch immer zustande zu bringen.

Eine Berufsdiplomatin als neue Regierungschefin?

Mélenchon ficht das nicht an. Warum auch. Es deutet vieles darauf hin, dass er im Kern gar nicht will, dass einer seiner Leute gewählt wird. Stattdessen will er den Beweis führen, dass „das System“ den LFI von der Macht fernhält, ungerechtfertigt, wie er findet. In anarcho-syndikalistischer Denktradition hätte man so das System entlarvt. Und das wäre Ergebnis genug. Wer will schon regieren und etwas besser machen?

Das wollen die anderen drei Parteien im NFP. Grüne, Kommunisten und Sozialisten haben die ehemalige französische Verhandlungsführerin für das Pariser Klimaabkommen, die 73 Jahre alte Laurence Tubiana, als Regierungschefin vorgeschlagen. Für die Wirtschaftswissenschaftlerin und Berufsdiplomatin spricht, dass sie sich seit langer Zeit für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung einsetzt und es vor allem gewohnt ist, Kompromisse zu schmieden. 

In Mélenchons Augen diskreditiert sie das. Sie sei „Macron-kompatibel“, heißt es, was als Beschimpfung gemeint ist. Die bornierte Sturheit Mélenchons führt aber dazu, dass die Linke ihren Wahlsieg verspielt. Denn natürlich versuchen auch die Konservativen, Einfluss auf das Macron-Lager zu gewinnen. Und nicht wenige von ihnen tendieren sowieso nach rechts, suchen das Bündnis mit den Républikanern. Der Beleg ist mit der Wahl Braun-Pivets geführt.

Wer Verbesserungen durchsetzen will, muss koalitionsfähig sein

Um Gabriel Attal herum gibt es aber auch viele Abgeordnete, die eher zur Linken tendieren, für die das gemeinsame Organisieren des „cordon sanitaire“ gegen die Rechtsradikalen kein Trick war, sondern ihrer ehrlichen, demokratischen Vorstellung entspringt. Sozialisten, Grüne und Kommunisten wären gut beraten, hier Verbündete zu suchen. Name und Person Laurence Tubiana senden ein gutes Signal in diese Richtung. Was noch fehlt, ist die Loslösung vom LFI. Der seinerseits hat diese praktisch längst vollzogen. In aller Regel erscheinen die Gesandten von Mélenchon nicht einmal zu den Sitzungen, in denen die Klärung „gemeinsamer Inhalte“ betrieben werden soll.

So richtig die Idee eines die gesamte Linke umfassenden Bündnisses auch ist, praktisch ist sie eine Farce. Wer wirklich regieren will und konkrete Verbesserungen für das Leben der Französinnen und Franzosen durchsetzen will, muss koalitionsfähig sein. Wie schwer das häufig ist, kann man in Deutschland sehen, wie notwendig in Frankreich.

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1 Kommentar

Gespeichert von Hartwig Schultze (nicht überprüft) am So., 21.07.2024 - 14:47

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Vielen Dank für diese präzise und klare Zusammenfassung, warum Frankreich jetzt nicht einfach eine sozialliberale Koalition bekommt.

Macron wollte mit den Neuwahlen wahrscheinlich RN die Regierung zuschieben, damit die sich dort bis 2027 blamieren und Marine Le Pen nicht Präsidentin wird. So wie Mitterand mit Chirac und Chirac mit Balladur und Jospin.