Geschichte

Siegfried Aufhäuser: Ein Fabrikantensohn als Gewerkschaftsführer

Schlechte Erfahrungen während seiner Lehre zum Handlungsgehilfen politisieren ihn. In der Weimarer Republik wird der Sozialdemokrat Siegfried Aufhäuser zu einem der wichtigsten Gewerkschafter. Die Nazis nötigen ihn zur Flucht, doch nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt er zurück.

von Lothar Pollähne · 2. Mai 2024
Gewerkschafter und Sozialdemokrat: Siegfried Aufhäuser bot nicht nur den Nationalsozialist*innen die Stirn.

Gewerkschafter und Sozialdemokrat: Siegfried Aufhäuser bot nicht nur den Nationalsozialist*innen die Stirn.

Am 20. Januar 1934 verabschiedet der Exilvorstand der SPD (SoPaDe) ein programmatisches Papier, das in den wesentlichen Zügen aus der Feder des reformsozialistischen Parteitheoretikers Rudolf Hilferding stammt. Der als „Prager Manifest“ in die Geschichte eingegangenen Text endet mit den pathetischen Worten: „Deutsche Arbeiter, einigt euch im revolutionären Kampf zur Vernichtung der nationalsozialistischen Diktatur! Durch Freiheit zum Sozialismus, durch Sozialismus zur Freiheit! Es lebe die deutsche revolutionäre Sozialdemokratie, es lebe die Internationale!“ Mit diesem markigen Gestus kaschiert die Mehrheit des SoPaDe-Vorstands den Mangel des Textes an Handlungsperspektiven. 

Die SPD verliert ihren einzigen namhaften Gewerkschafter

Zwei Mitglieder des Vorstands lehnen daher das Manifest ab: der ehemalige sächsische Parteivorsitzende Karl Böchel und der ehemalige Vorsitzende des „Allgemeinen freien Angestelltenbundes“ (AfA-Bund) Siegfried Aufhäuser. Beide gehören als linke Sozialdemokraten dem „Arbeitskreis Revolutionärer Sozialisten“ an und machen sich für eine Volksfront aller linken Kräfte stark. In diesem Sinne veröffentlichen sie bald nach dem „Prager Manifest“ eine Programmschrift mit dem Titel „Der Weg zum sozialistischen Deutschland. Eine Plattform für die Einheitsfront“.

Die Mehrheit des Parteivorstands nimmt diese Bestrebungen am 30. Januar 1935 zum Anlass, Karl Böchel und Siegfried Aufhäuser aus dem SoPaDe-Vorstand und darüber hinaus wegen „organisatorischer Sonderbestrebungen“ aus der SPD auszuschließen. Für die SPD im Exil ist diese Entscheidung äußerst misslich, denn mit Siegfried Aufhäuser verliert sie einen ihrer profiliertesten Sozialpolitiker und den einzigen namhaften Gewerkschafter.

Als Hilfsarbeiter ausgebeutet

Siegfried Aufhäusers Weg in die Gewerkschaftsbewegung und zur Sozialdemokratie ist ungewöhnlich, aber letztlich konsequent. Geboren wird er am 1. Mai 1884 in Augsburg als dritter Sohn einer jüdischen Fabrikantenfamilie. Auch wenn der Vater den Sabbat nicht immer streng einhält, werden die Kinder dennoch in jüdischem Geiste erzogen. Sie besuchen die Volksschule und lernen in der Synagoge Hebräisch und Bibelkunde. Die Mahlzeiten im Hause Aufhäuser sind koscher. Nach dem Abschluss der Höheren Handelsschule beginnt Siegfried Aufhäuser in einer Münchner Textilgroßhandel eine Lehre zum Handlungsgehilfen — und ist entsetzt. Anstatt eine kaufmännische Ausbildung zu erhalten, wird er als Hilfsarbeiter ausgebeutet. Außerdem sieht er sich antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Aufgrund dieser Erfahrungen tritt Siegfried Aufhäuser dem liberalen „Verein deutscher Kaufleute“ (VdDK) bei. 

Mit diesem Schritt beginnt seine Politisierung. 1905 wird er Vorsitzender des VdDK in Berlin und arbeitet bis 1912 in verschiedenen Handelshäusern. Aufhäusers erster Schritt auf die politische Bühne misslingt jedoch. 1908 ist er Mitgründer der linksliberalen „Demokratischen Vereinigung“, zu deren prominentesten Mitgliedern Rudolf Breitscheid, die Frauenrechtlerin Minna Cauer und Carl von Ossietzky zählen. Nach der desaströs verlaufenen Reichstagswahl tritt ein großer Teil der Mitglieder 1912 aus der Demokratischen Vereinigung aus und schließt sich der SPD an. Auch Rudolf Breitscheid und Siegfried Aufhäuser gehen diesen Weg.

Der Beginn des Ersten Weltkriegs radikalisiert ihn

1913 trifft Siegfried Aufhäuser eine Entscheidung, die fortan sein politisches und berufliches Leben bestimmen wird: Er wird als Sekretär beim „Bund der technisch-industriellen Beamten“ angestellt und dort für den Bereich Sozialpolitik zuständig. Angesichts des großen Krieges und der damit einhergehenden sozialen Verwerfungen radikalisiert sich Aufhäuser und schließt sich, wie Rudolf Breitscheid, der USPD an.

Im selben Jahr wird Siegfried Aufhäuser geschäftsführender Vorsitzender der „Arbeitsgemeinschaft für das einheitliche Arbeitsrecht“, zu der sich 1915 mehrere sozialdemokratisch orientierte Angestelltenverbände zusammengeschlossen hatten. Aufhäuser ist überzeugt, dass arbeitende und angestellte Menschen nur im gemeinsamen Kampf soziale Fortschritte erreichen können. Damit spricht er sich deutlich für die gewerkschaftliche Orientierung der Angestellten aus.

Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände

Anfang Januar 1920 konstituiert sich als Nachfolge-Organisation der Arbeitsgemeinschaft für das einheitliche Arbeitsrecht die „Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände“ (AfA), die sich zum Sozialismus und zur Gemeinwirtschaft bekennt. Siegfried Aufhäuser wird zum Vorsitzenden gewählt. Schon zwei Monate später muss er seine erste große Bewährungsprobe bestehen. Gemeinsam mit dem ADGB-Vorsitzenden Carl Legien ruft Siegfried Aufhäuser am 13. März 1920 zum Generalstreik gegen den „Kapp-Lüttwitz-Putsch“ auf, dem sich auch der Beamtenbund anschließt.

Eindrücklich beschreibt Siegfried Aufhäuser Carl Legiens Auftreten in jenen aufgewühlten Tagen: „Legien hatte, das zeigte sich damals, persönlichen Mut, und als er in jener denkwürdigen Nacht vom 20. März die Forderungen der streikenden Arbeiter gegenüber der Regierung und den Parteien zu vertreten hatte, da sprach ein weißhaariger Feuerkopf.“ Anerkennend fügt Aufhäuser hinzu, das Auftreten Legiens sei „Ausdruck jenes Kraftgefühls, das die denkende freigewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft erfüllte.

Legien war eben Proletarier und hat sein proletarisches Empfinden im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen bis zum Tode behalten.“ Der Generalstreik endet am 17. März mit der Niederschlagung des Putsches und beweist, welche Macht die organisierte Arbeiter*innen-Bewegung zur Verteidigung der jungen Republik entfalten konnte —  und vermutlich auch noch in der Spätphase der Weimarer Republik  hätte ausüben können.

Einzug in den Reichstag und Rückkehr in die SPD

Am 12. April 1921 schließen der ADGB und der AfA-Bund einen Organisationsvertrag über das Zusammenwirken in allen gewerkschaftlichen, sozialen und wirtschaftspolitischen Angelegenheiten, welche Arbeiter*innen und Angestellte gemeinsam berühren. Federführend ist nach dem Tod Legiens im Dezember 1920 Siegfried Aufhäuser, der auf dem ersten AfA-Kongress im Oktober 1921 zum Vorsitzender des nunmehr „Allgemeiner freier Angestelltenbund“ heißt.

Im selben Jahr rückt er für die USPD in den Reichstag nach. Wie auch Rudolf Breitscheid kehrt Siegfried Aufhäuser im Oktober 1922 zur SPD zurück. Sein Reichstagsmandat behält er bis 1933. In der SPD-Reichstagsfraktion profiliert sich Aufhäuser als Linker. Sein Hauptinteressengebiet bleibt die Sozialpolitik. Maßgeblich beeinflusst er die Gesetzgebung zur Arbeitslosenversicherung und zur Schaffung eines Arbeitsgerichtsgesetzes.

Die „Machtergreifung“ des Nazis trifft ihn nicht unvorbereitet

Die „Stimme der Angestellten“ findet auch international Gehör, denn ab 1928 wird Siegfried Aufhäuser als Sachverständiger des Internationalen Arbeitsamtes in Genf tätig. Die Machtübertragung an die Nazis am 30. Januar 1933 trifft Siegfried Aufhäuser nicht unvorbereitet. Als Jude, Gewerkschafter und Sozialdemokrat angefeindet, macht er sich keine Illusionen um den Erhalt der Demokratie und der sie stützenden Organisationen. Vergeblich versucht Aufhäuser — in Erinnerung an den erfolgreichen Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch — SPD und ADGB von der Notwendigkeit eines solchen Streiks zu überzeugen. Noch bevor die Nazis am 2. Mai 1933 die Gewerkschaften zerschlagen, tritt Aufhäuser im März des Jahres als AfA-Vorsitzender zurück. Ob er, wie von manchen Historikern vermutet, seiner jüdischen Herkunft wegen dazu gedrängt worden ist, lässt sich nicht belegen. Der AfA-Bund löst sich am 30. April selbst auf. 

Am 26. April findet in Berlin die Reichskonferenz der SPD statt, die letzte große Zusammenkunft der Partei vor dem Verbot. Wie auch sein Freund Karl Böchel wird Siegfried Aufhäuser als Linker in den Parteivorstand gewählt. Anfang Mai 1933 flieht Aufhäuser ins Saarland, das unter Völkerbunds-Mandat steht. Da sich die politische Lage auch im Saarland zuspitzt, zieht er gemeinsam mit dem Exil-Vorstand der SPD im Juni weiter nach Prag. Im August 1933 wird Siegfried Aufhäuser gemeinsam mit Karl Böchel als Parteilinker in den Exilvorstand aufgenommen. Große Wirkung können beide dort bis zu ihrem Ausschluss nicht entfalten.  

Flucht ins Zentrum des Kapitalismus

Im Dezember 1936 ist Siegfried Aufhäuser Mitunterzeichner des Aufrufs „Bildet die deutsche Volksfront! Für Frieden, Freiheit und Brot“, der trotz des Bekenntnisses, „die braune Zwangsherrschaft zu vernichten“, letztlich folgenlos bleibt. Über London flieht Aufhäuser noch vor dem deutschen Überfall auf Frankreich nach New York ins Zentrum des Kapitalismus. Seinen Lebensunterhalt verdient er mühsam als freier Journalist und Redakteur der deutsch-jüdischen Zeitung „Aufbau“. 1944 gehört Siegfried Aufhäuser zu den Gründungsmitgliedern des „Council for a Democratic Germany“. 

Erst 1951 kehrt Siegfried Aufhäuser als US-Bürger nach Deutschland zurück. Sein Versuch, beim Deutschen Gewerkschaftsbund Fuß zu fassen, bleibt ohne Erfolg. Stattdessen wird er 1952 zum Vorsitzenden des Landesverbandes der „Deutschen Angestellten-Gewerkschaft“ in Berlin gewählt. Damit schließt sich sein Lebenskreis, den er 1921 als Vorsitzender im „Allgemeinen freien Angestelltenbund“ begonnen hatte. Als er 1959 im Alter von 75 Jahren sein Amt niederlegt, wird Siegfried Aufhäuser von allen Seiten für sein lebenslanges Engagement mit Lobeshymnen überhäuft.

 Er selbst bleibt bescheiden und antwortet in seinem Schlusswort: „Die Anerkennung und Dankesbezeugungen, die ich erfahren habe, waren des Guten zu viel, denn nicht Sie haben mir, ich habe der Bewegung zu danken. Was ich bin und was ich zu leisten vermochte, verdanke ich der gewerkschaftlichen Angestelltenbewegung und der politischen Arbeiterbewegung.“ Siegfried Aufhäuser stirbt am 6. Dezember 1969 in Berlin. Sein Credo bleibt — auch für die konsequente Nachfolgegewerkschaft ver.di: „Arbeiter und Angestellte haben ein gleiches Interesse“.

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