Geschichte

Hinrich Wilhelm Kopf: „Roter Landrat“ und erster Ministerpräsident

1947 wird Hinrich Wilhelm Kopf erster frei gewählter Ministerpräsident Niedersachsens. Er erwirbt sich große Verdienste um sein Bundesland. Überschattet werden sie jedoch von Verbrechen während der Nazi-Zeit.
von Lothar Pollähne · 5. Mai 2023
Erster Landesvater: Der Sozialdemokrat Hinrich Wilhelm Kopf war erster Ministerpräsident des neu geschaffenen Bundeslandes Niedersachsen.
Erster Landesvater: Der Sozialdemokrat Hinrich Wilhelm Kopf war erster Ministerpräsident des neu geschaffenen Bundeslandes Niedersachsen.

Im Sommer 1947 klettert ein Mann auf den Leuchtturm der Insel Neuwerk und lässt den „Blick in die unendliche Ferne“ schweifen. Er hat sich aus dem geschäftigen, aber immer noch kriegsversehrten Hannover an die Küste zurückgezogen, um über die Zukunft des Landes Niedersachsen nachzudenken. Das Ergebnis dieses Nachdenkprozesses präsentiert er am 15. August in einem neuen Nachrichtenmagazin, das ihm dafür großzügig eine Heftseite einräumt: „Eine SPIEGEL-Seite für Hinrich Wilhelm Kopf“. Dort legt der niedersächsische Ministerpräsident dar, wie er sich die künftige Verfassung seines Bundeslandes vorstellt.

Der erste so genannte Neuwerk-Entwurf der Landesverfassung stammt von ihm persönlich, so Kopf, „weil ich mich von jeher für Fragen des Verfassungsrechts besonders interessiert habe. Dieses Interesse beruht auf Gründen der Tradition und der Liebe zu meiner niedersächsischen Heimat, insbesondere dem an der Elbmündung liegenden Lande Hadeln.“ So soll auch, das ist sein höchster Wunsch, „die künftige Verfassung unseres Landes Niedersachsen den Geist dieser Landschaft, untrennbar mit dem Blick auf das große Ganze gerichtet, verkörpern.“

Flucht in die USA und Rückkehr nach Deutschland

Zeitlebens kokettiert „der geborene Bauer von der Niederelbe“ (SPIEGEL) mit seiner ländlichen Herkunft. Geboren wird Hinrich Wilhelm Kopf am 6. Mai 1893 als Sohn des Landwirts und Posthalters Peter Nicolaus Kopf. Das könnte bäuerliche Beschaulichkeit suggerieren, aber das Gegenteil ist der Fall. Hinrich Wilhelms Eltern haben in den U.S.A. geheiratet und Bodenständigkeit mit Weitblick verbunden. Das prägt auch den Sohn. Nach dem Abschluss der Dorfschule schicken ihn die Eltern auf Anraten des Pfarrers erst auf die Realschule nach Otterndorf und später auf das Gymnasium nach Cuxhaven. Hinrich Wilhelm überwirft sich mit dem Vater und „flieht“ 1909 in die U.S.A.. Nach neun Monaten kehrt er zurück. Allerdings nicht nach Hause. In Schleswig-Holstein beginnt er eine Landwirtschaftslehre und bereitet sich auf seine externe Abiturprüfung vor, die er 1913 am Andreanum in Hildesheim besteht.

1914 beginnt Hinrich Wilhelm Kopf mit dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften. Bei Kriegsbeginn meldet er sich freiwillig zum Wehrdienst, wird aber krankheitshalber nach kurzer Zeit wieder entlassen. Das ermöglicht ihm, bereits 1917 seine erste juristische Staatsprüfung abzulegen und sein Referendariat am Amtsgericht in Otterndorf zu beginnen. Zum Ende des Krieges meldet sich Hinrich Wilhelm Kopf noch einmal freiwillig zum Dienst und wird Feuerwerker in der Marine. 1918 beginnt der kurze, revolutionäre Lebensabschnitt Hinrich Wilhelm Kopfs: Er wird Leiter der juristischen Kommission im Cuxhavener Soldatenrat. Anschließend beendet er seine juristisches Referendariat in Göttingen und zieht nach Bielefeld, um dort das Presseamt aufzubauen, mit dessen Leitung er betraut wird.

Geschäfte mit den Nazis

1919 wird Hinrich Wilhelm Kopf Mitglied der SPD und begibt sich auf den politischen Karriereweg. Er wird persönlicher Referent des Reichsinnenministers Eduard David. 1920 geht Kopf nach Thüringen und übernimmt als Regierungsrat die Leitung der kasernierten Polizei. 1923 unterbricht Hinrich Wilhelm Kopf seinen politischen Weg und volontiert bei der Deutschen Merkurbank. Bis 1928 arbeitet er als selbständiger Immobilienmakler und Geschäftsführer eines Versicherungsunternehmens. Dann begibt er sich wieder aufs politische Parkett; er wird zum Landrat des Kreises Hadeln ernannt und bleibt dies bis zum „Preußenschlag“, mit dem die vorfaschistische Reichsregierung Franz von Papens die sozialdemokratische preußische Landesregierung wegputscht. Hinrich Wilhelm Kopf wird in den einstweiligen Ruhestand und im November 1932 zum Regierungspräsidium ins oberschlesische Oppeln versetzt.

1933 wird Hinrich Wilhelm Kopf von den Nazis entlassen. Ein Bekannter überträgt ihm die Leitung zweier Immobilienunternehmen, die Kopf jedoch im April 1934 wieder abgibt, weil der Bekannte Jude Ist. Mit dem erworbenen Wissen und vielen neuen Kontakten gründet Hinrich Wilhelm Kopf seine eigene Immobilienfirma und beginnt – obwohl kein Mitglied der NSDAP –  mit den Nazis Geschäfte zu machen. 1939 wird Kopf als Generaltreuhänder im oberschlesischen Königshütte eingesetzt. Ein Jahr später wird er Angestellter der „Haupttreuhandstelle Ost“ und Hauptakteur bei der „Germanisierung“ von jüdischem und polnischem Eigentum — ein Verbrechen, das er später dem niedersächsischen Landtag gegenüber in Abrede stellt. 1943 übernimmt Hinrich Wilhelm Kopf die Leitung eines Rittergutes, dessen Besitzerin er 1940 geheiratet hatte. Im Januar 1945 flieht Kopf aus Oberschlesien mit dem Ziel „Land Hadeln“. Bis dorthin kommt er allerdings nicht. Der „rote Landrat“ aus Otterndorf wird in Hannover gebraucht.

Erster Ministerpräsident Niedersachsens

Am 1. Mai 1945 wird Hinrich Wilhelm Kopf zum Regierungspräsidenten ernannt, am 18. September zum Oberpräsidenten von Hannover. Am 23. August 1946 ernennt die britische Militärregierung Hinrich Wilhelm Kopf zum Ministerpräsidenten des Landes Hannover und nach der Bildung des Landes Niedersachsen am 23. November 1946 zu dessen ersten Ministerpräsidenten. Es muss der Militärregierung bewusst gewesen sein, welche Anschuldigungen gegen Hinrich Wilhelm Kopf vorlagen, denn Polen hatte die Auslieferung des Kriegsverbrechers Kopf beantragt. Diese wird jedoch aus Gründen der politischen Opportunität und des sich abzeichnenden „Kalten Kriegs“ abgelehnt.

Nach den ersten Landtagswahlen in Niedersachsen am 20. April 1947 wird die SPD stärkste Partei und der stärkste Mann der Partei, Hinrich Wilhelm Kopf, der erste frei gewählte Ministerpräsident des neuen Landes. Nach der verlorenen Landtagswahl des Jahres 1955 verabschiedet sich Hinrich Wilhelm Kopf vorübergehend und durchaus beleidigt  aus der Politik und geht auf Reisen. Seine politikfreie Zeit dauert zwei Jahre, dann kehrt er als Stellvertreter Heinrich Hellweges, der inzwischen als Vertreter der Deutschen Partei (DP) Ministerpräsident des Landes Niedersachsen ist, in die Landesregierung zurück und übernimmt das Amt des Innenministers.

Nach der Landtagswahl 1959 steht die Politik in Niedersachsen nicht mehr Kopf und Hinrich Wilhelm wird am 12. Mai des Jahres abermals zum Ministerpräsidenten gewählt. Das bleibt er bis zu seinem frühen Tod am 21. Dezember 1961. Das ist das Ende einer Institution und der Beginn eines Mythos, denn der „rote Welfe“ verkörperte wie kein Zweiter die Verknüpfung von Bodenständigkeit und Weitsicht. Er bewegte sich beim Skat in der Dorfkneipe ebenso sicher wie in der großen weiten Welt der Politik und der Diplomatie, geleitet von der Devise: „Pus di man nich op, büst ok blot mit‘n nookten Moors oppe Welt komen.“ Hinrich Wilhelm Kopfs Verdienste um das Wohl und Wehe des Lande Niedersachsen sind unbestritten und bleiben, werden aber überschattet durch seine schuldhafte Verstrickung in Nazi-Verbrechen.

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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