Geschichte

Vor 75 Jahren: Wie aus vier Ländern Niedersachsen wurde

Die Neuordnung der Bundesländer stellte die alliierten Mächte nach dem Zweiten Weltkrieg zum Teil vor große Herausforderungen. Dass vor 75 Jahren das Land Niedersachsen gegründet wurde, geht vor allem auf zwei Sozialdemokraten zurück.
von Klaus Wettig · 1. November 2021
Erster Landesvater: Der Sozialdemokrat Hinrich Wilhelm Kopf war erster Ministerpräsident des neu geschaffenen Bundeslandes Niedersachsen.
Erster Landesvater: Der Sozialdemokrat Hinrich Wilhelm Kopf war erster Ministerpräsident des neu geschaffenen Bundeslandes Niedersachsen.

Im Laufe ihres ersten Besatzungsjahres dämmerte es der amerikanischen und der britischen Besatzungsmacht – die französische war deutlich zurückhaltender – dass in der entstandenen Struktur von Militärregierungen und deutschen Verwaltungsbehörden ohne politische Legitimation die Nachkriegszeit nicht zu steuern, an Wiederaufbau nicht zu denken sein würde. Mit der Auflösung des Landes Preußen am 25. Februar 1947 durch den Alliierten Kontrollrat war eine zentrale Entscheidung getroffen worden, doch was sollte mit den ehemals preußischen Provinzen geschehen. Weggefallen waren die Ostprovinzen mit der Annexion durch Polen und die Sowjetunion. Die Sowjetunion setzte für ihre Besatzungszone auf eine unabhängige Entwicklung, da sie nicht erwarten konnte, dass die Westalliierten ihre Forderungen für das Wiederentstehen eines deutschen Staates erfüllen würden. Die Hoffnung auf eine gemeinsame Politik der Siegermächte für Deutschland als Ganzes schwand von Monat zu Monat.

Wie nach dem Krieg die Bundesländer entstanden

Leicht ließen sich die Probleme der Länderbildung von der US-Militärregierung lösen. Bayern konnte nahezu ungeteilt wiederentstehen, nur die bayrische Pfalz, die seit dem Westfälischen Frieden von 1648 zu Bayern gehörte, wurde abgetrennt. Die Interessen der französischen Besatzungsmacht wurden mit der Bildung des Landes Rheinland-Pfalz befriedigt: aus dem Südteil der ehemals preußischen Rheinprovinz, der ehemals bayrischen Pfalz und den westrheinischen Gebieten des Volksstaates Hessen; aus dem Land Oldenburg kam die Exklave Birkenfeld hinzu, die schon 1937 durch das Groß-Hamburg-Gesetz der Rheinprovinz zugeschlagen wurde. Auch die hessische Frage ließ sich einfach lösen, denn zu den ostrheinischen Gebieten des ehemaligen Volksstaates Hessen wurde der amerikanisch besetzte Teil der preußischen Provinz Hessen-Nassau zugeschlagen, sodass ein neues Land auf gemeinsamen Traditionen entstand.

Als nicht lösbar erwies sich zunächst die Landesbildung im Südwesten, da die US-Militärregierung über Württemberg, die zuvor zu Preußen gehörenden Hohenzollerschen Lande und Teile Badens – mit Heidelberg – verfügte, die südlichen Teile der historischen Republik Baden jedoch zur Französischen Besatzungszone gehörten. Hier konnte das Bundesland Baden-Württemberg erst nach einer Volksabstimmung 1952 entstehen.

Überlegungen für einen Nordstaat

Die härtesten Nüsse hatte die Britische Militärregierung zu knacken, da sie zahlreiche preußische Provinzen übernommen hatte sowie mehrere Kleinstaaten des Deutschen Reiches. Problemlos war die Bildung des Landes Schleswig-Holstein, das als preußische Provinz seit 1866 existierte. Die zuvor staatsrechtliche selbstständige Hansestadt Lübeck und der Landesteil Lübeck des Freistaats Oldenburg waren bereits 1937 durch die Nazis im Groß-Hamburg-Gesetz der Provinz Schleswig-Holstein zugeschlagen worden. Diese Entscheidung machten die Briten nicht rückgängig.

Mit der Entscheidung für Schleswig-Holstein entfiel die Überlegung für einen Nordstaat, in den die verbliebenen preußischen Provinzen sowie die Kleinstaaten Braunschweig, Lippe, Oldenburg und Schaumburg-Lippe hätten bilden können. Ein Nordstaat erinnerte zu stark an das untergegangene Preußen, deshalb wurde nach neuen Ideen gesucht. Unabhängig von diesen Überlegungen wurde an der Selbstständigkeit von Bremen und Hamburg festgehalten. Die US-Besatzungsmacht war auf die ungestörte Nutzung der Bremer Häfen für ihren Nachschub angewiesen, dieselbe Bedeutung hatte Hamburg für die Briten.

Furcht vor einer Dominanz der SPD

Sehr weit waren die Überlegungen von Hinrich-Wilhelm Kopf (SPD) für einen norddeutschen Küstenstaat gediehen, wobei er ältere Vorschläge aufgriff, die in der Reichsreformdebatte der Weimarer Republik unter dem Namen Niedersachsen formuliert worden waren. Da die britische Besatzungsmacht Kopf schon 1945 zum Oberpräsidenten der Provinz Hannover ernannt hatte, aus dem 1946 der ernannte Ministerpräsident des vorläufigen Landes Hannover wurde, bestimmten seine Überlegungen bald die weitere Diskussion. Der ernannte hannoversche Landtag unterstützte Kopfs Pläne. Eine wichtige Vorentscheidung trafen die Briten mit der Zuordnung des Landes Schaumburg-Lippe zu Hannover, bei Erhalt der staatsrechtlichen Selbstständigkeit. In den weiteren Debatten und Verhandlungen war nur noch mit Braunschweig und Oldenburg zu rechnen, wo ebenfalls ernannte Regierungen und Landtage entstanden waren.

In beiden Ländern, die auf eine lange Existenz zurückblicken konnten, gab es eine starke Strömung für den Rückgewinn der Eigenstaatlichkeit. Besonders stark war sie in Oldenburg, die dort von den dominierenden Parteien ausging. Im damals noch agrarisch geprägten Land war die FDP die führende Partei. Sie stellte mit Theodor Tantzen auf den Ministerpräsidenten. Im katholischen Südoldenburg lag die aus dem Zentrum hervorgegangene CDU weit vor ihren Konkurrentinnen. Auch eine Wiedergründung des Zentrum existierte in den Nachkriegsjahren. Aus dieser Konstellation entwickelte sich der Widerstand gegen eine Niedersachsen-Lösung, in der die Dominanz der SPD und des Protestantismus befürchtet wurde.

Hinrich Wilhelm Kopf wird erster Ministerpräsident

Überraschend geschah die Wende im Land Braunschweig, nachdem der Oberbürgermeister der Stadt Braunschweig, Alfred Kubel, nach personellen Querelen Ministerpräsident geworden war. Der wirtschaftserfahrene Kubel sah die wirtschaftlichen Chancen Braunschweigs skeptisch, nur in einem größeren Verbund konnte nach seiner Ansicht der Wiederaufbau gelingen. Sein Einschwenken auf die Kopf-Linie brachte die Wende in der Neubildungs-Diskussion. Die Briten setzten gegen verbliebene Widerstände mit der Verordnung Nr. 55 vom 8. November 1946 rückwirkend zum 1. November 1946 das Land Niedersachsen durch.

Ministerpräsident der ernannten Allparteienregierung aus SPD, CDU, Niedersächsischer Landespartei – später Deutsche Partei, FDP und KPD – wurde Hinrich Wilhelm Kopf. Die Ministerpräsidenten Alfred Kubel und Theodor Tantzen gehörten ebenfalls der ersten niedersächsischen Landesregierung an. Kubel als Wirtschaftsminister, Tantzen als Verkehrsminister. Leer ging das Land Schaumburg-Lippe bei der Kabinettsbildung aus.

Kontrolliert wurde die Allparteien-Regierung von einem Ernannten Landtag, dessen 82 Abgeordnete vorher den ernannten Länderlandtagen angehört hatten. Auch erste Landesgesetze hatte er vorzubereiten, die aber der Genehmigung der Militärregierung bedurften. Zum wichtigsten Gesetz dieser Phase wurde das Landtagswahlgesetz für die Landtagswahl am 20. April 1947. In 95 Wahlkreisen sollten mit einfacher Mehrheit Wahlkreisabgeordnete gewählt werden, zu denen 49 Listenabgeordnete hinzutraten, für die die Parteien feste Landeslisten aufstellten. Über die Gesamtzahl der Mandate entschied das Verhältniswahlrecht.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

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