Geschichte

Hermann Brill: einer der vergessenen Väter des Grundgesetzes

Nach sechseinhalb Jahren Haft ist Hermann Brill einer der ersten, die im April 1945 aus dem KZ Buchenwald entlassen werden. Ein Treffen mit Hitler hatte den Sozialdemokraten zu einem seiner größten Gegnern gemacht.

von Lothar Pollähne · 25. Juni 2024
Geprägt von den Erfahrungen des NS-Staats: der Sozialdemokrat Hermann Brill

Geprägt von den Erfahrungen des NS-Staats: der Sozialdemokrat Hermann Brill

Anfang Mai 1945 reist der Schriftsteller Klaus Mann von Rom nach Deutschland. Als Sonderberichterstatter der US-Armee-Zeitung „Stars and Stripes“ gelangt er zunächst nach München, wo er sein Geburtshaus als Ruine erblickt. Die steht sinnbildlich für das „Vaterland“, in dem er sich „fremd“ fühlt. Nach vielen Begegnungen notiert Klaus Mann ernüchtert: „Ein Abgrund trennt mich von meinen früheren Landsleuten.“ Es gibt nur wenige Ausnahmen.

Den vielleicht „stärksten, besten Eindruck“ hinterlässt in Manns Erinnerung der Regierungspräsident von Thüringen, Hermann Brill, den der Schriftsteller Mitte Juni 1945 porträtiert, als er Weimar im noch von der US-Armee besetzten Thüringen besucht. Brill ist am 27. April als einer der ersten Häftlinge aus dem KZ Buchenwald entlassen worden und auf Empfehlung des ebenfalls in Buchenwald inhaftierten Publizisten Eugen Kogon offizieller Berater der US-Administration geworden.

Am 7. Mai 1945 übernimmt Brill zunächst kommissarisch die Geschäftsführung der früheren thüringischen Landesregierung, wird vier Wochen später zum vorläufigen Regierungspräsidenten bestellt und sodann mit der Regierungsbildung beauftragt. In wenigen Wochen erarbeitet Hermann Brill Richtlinien zur Entnazifizierung und einen Plan für die Neuorganisation der Landesverwaltung. 

„Ein guter Demokrat, ein guter Arbeiter, ein guter Mann“

Während dieser demokratischen Aufbruchsphase findet die Begegnung zwischen Klaus Mann und Hermann Brill statt, der den Schriftsteller schwer beeindruckt: „Es gibt keine Rachsucht in seinen Worten, obwohl er doch Grund genug zur Bitterkeit hätte. Er ist menschenfreundlich geblieben, wenngleich Menschen ihm so Arges angetan haben. Er liebt Deutschland — nach sechs Jahren und sieben Monaten in deutschen Kerkern. Trotz aller trüben Erfahrungen glaubt er an Fortschritt und Gerechtigkeit. Alle Prüfungen, durch die er gehen musste, haben ihn nicht mutlos werden lassen.“ Kurz und bündig urteilt Klaus Mann über Hermann Brill: „Ein guter Demokrat, ein guter Arbeiter, ein guter Mann – man hätte keinen Besseren für solch verantwortungsvollen Posten finden können.“ Brill bleiben nur noch wenige Wochen als Regierungspräsident.

Am 3. Juli 1945  übernimmt die Rote Armee nach alliierter Absprache die Macht in Thüringen. Obwohl der Chef der Sowjetischen Militäradministration, General Wassili Tschuikow, Hermann Brill nach Sondierungsgesprächen für den besten Mann im Amt des Regierungspräsidenten hält, muss er sich einer mächtigeren Gruppe beugen. Nicht ohne Billigung des Kremls kann der Stalinist Walter Ulbricht verhindern, dass der demokratische Linkssozialist Hermann Brill im Amt bleibt und die linientreue kommunistische Ausrichtung des Landes Thüringen in Gang setzen. Brill ist für dieses Vorhaben ein Störenfried. Seine Amtszeit endet am 15. Juli 1945.

August Bebel ist ein gern gesehener Gast

Seit der Kindheit ist der Sozialismus Hermann Brills Erfahrungsraum. Geboren wird er am 9. Februar 1895 in Gräfenroda im Thüringer Wald. Der Vater ist Schneidermeister und ein freisinniger, kulturbeflissener Mann, für den der Sozialismus die moralische Richtschnur bildet. Diese Haltung übernimmt auch der wissbegierige Hermann. 1897 zieht die Familie in das benachbarte Städtchen Ohrdruf. August Bebel ist ein gern gesehener Gast im Hause Brill, und auch revolutionäre russische Emigrant*innen finden dort Zuflucht.

Nach dem Besuch der Bürgerschule in Ohrdruf kann Hermann Brill das „Herzog-Ernst-Seminar“ in Gotha besuchen, eine Ausbildungsstätte für angehende Lehrer*innen. Für Kinder aus kleinbürgerlichen Verhältnissen ist dies ein Karriere-Versprechen. 1914 legt Brill sein erstes Lehrerexamen ab. Danach meldet er sich freiwillig zum Kriegsdienst und wird Offiziersanwärter bei der Feldluftschifftruppe.

Verfassungsvater für den Freistaat Sachsen-Gotha

Wie für viele seiner Generation wirken die Gräuel des Krieges ernüchternd auf Hermann Brill und befördern seine weitere Politisierung. Im Oktober 1918 wird er Mitglied der USPD, im Jahr darauf Mitglied der Landesversammlung des damaligen Freistaates Sachsen-Gotha, für den er als juristischer Autodidakt eine demokratische Verfassung ausarbeitet. Die Juristerei bleibt zunächst nur eine Nebenbeschäftigung, denn 1920 legt Hermann Brill sein zweites Lehrerexamen ab und arbeitet danach kurzzeitig als Volksschullehrer.

Nach der Gründung des Landes Thüringen am 1. Oktober 1920 zieht Hermann Brill in den Landtag ein und wechselt in den Staatsdienst: zunächst als Hilfsreferent im Ministerium für Volksbildung, danach von 1921 bis 1923 als Staatsrat in der Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten August Frölich.

Brill ist maßgeblich an der Erarbeitung der Schulreform beteiligt, die eine Einheitsschule ohne Religionsunterricht vorsieht, welche er als wesentlichen Schritt auf dem Weg zum Sozialismus ansieht. Brills Motto lautet: „Erst die Emanzipation der Arbeiter ist die Emanzipation des Geistes. Erst die sozialistische Gesellschaft schafft das Ideal der Gewissensfreiheit in der Demokratie.“

Leitender Landespolizist in Putsch-Zeiten

1922 verlässt Hermann Brill die USPD, weil er sich als sozialistischer Demokrat nicht dem Diktat der „Kommunistischen Internationale“ unterwerfen will. Im turbulenten Jahr 1923 wird Hermann Brill als Ministerialdirektor im Innenministerium zuständig für die Polizeiabteilung. Im Oktober des Jahres entsteht nach sächsischem Vorbild eine sozialdemokratisch-kommunistische Koalitionsregierung, die allerdings nur wenige Wochen im Amt ist. In völliger Verkennung der politischen Machtverhältnisse in Deutschland propagiert die „Kommunistische Internationale“ den revolutionären Aufstand, den deutsche Kommunist*innen in Sachsen, Hamburg und Thüringen einleiten sollen.

Hermann Brill ist in dieser Situation als leitender Landespolizist gefordert, denn ein bolschewistisches Thüringen passt nicht in seine sozialistische Ideenwelt. Als die Reichswehr die kommunistischen Putschversuche mit Gewalt beendet, ist Hermann Brill entsetzt, da er Notstandsmaßnahmen in einem demokratischen Staat missbilligt. Nach dem Bruch der Koalition amtiert eine sozialdemokratische Minderheitsregierung, die nach der Landtagswahl 1924 von einer völkisch-nationalen Regierung abgelöst wird. Hermann Brill wird als politischer Beamter in den Wartestand versetzt.

Begegnung mit Adolf Hitler 

1924 schreibt sich Hermann Brill für das Studium der Rechtswissenschaften in Jena ein, das er 1929 mit einer Dissertation über „Studien zur Geschichte und Entwicklung der deutschen Selbstverwaltung“ abschließt. Das Staatsrecht wird im Thüringischen Landtag zu seinem Hauptbetätigungsfeld, vor allem, nachdem Anfang Januar 1930 mit Wilhelm Frick der erste Nazi als Innenminister in eine deutsche Regierung einzieht. Eine von Fricks ersten Maßnahmen ist die Ernennung Adolf Hitlers zum Gendarmeriekommissar von Hildburghausen.

Das erweist sich zwar als rechtswidrig, verhilft Hitler jedoch zur deutschen Staatsbürgerschaft. 1932 setzt der Thüringische Landtag deshalb einen Untersuchungsausschuss ein, dessen Vorsitz Hermann Brill übernimmt. Am 14. März 1932 lädt der Ausschuss Adolf Hitler zur Vernehmung. In nur 30 Minuten lernt Hermann Brill das personifizierte Grauen kennen. „Er erschien mir damals als ein hysterischer Brutalist, ungebildet, zynisch, durch und durch unwahrhaftig, arrogant, unbeherrscht, bereit, jeden anderen physisch oder moralisch niederzuschlagen.“ 

Aus der SPD zur „Deutschen Volksfront“

Seit dieser Vernehmung befindet sich Hermann Brill im unbedingten Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Diese Haltung vermisst er bei den Arbeiterparteien SPD und KPD, die er in der überkommenen Form für überflüssig hält. Im Mai 1933 tritt Hermann Brill aus der SPD aus, bleibt aber linkssozialistisch aktiv, zunächst in Thüringen in der Organisation „Neu Beginnen“, der er auch 1934 nach seinem Umzug nach Berlin verbunden bleibt. 1936 gründet Brill mit anderen enttäuschten Sozialdemokraten die „Deutsche Volksfront“. Brill zeichnet verantwortlich für ein Zehn-Punkte-Programm als Plattform für liberale, demokratische, sozialistische und kommunistische Gruppen mit dem Ziel einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Demokratie.

Erst 1938 gelingt es der Gestapo die „Deutsche Volksfront“ zu zerschlagen. Hermann Brill wird verhaftet und 1939 wegen Hochverrats zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Fünf Jahre verbringt Brill im Zuchthaus Brandenburg-Görden, dann wird er als „nichtbesserungsfähig“ ins Konzentrationslager Buchenwald verbracht. Auch an diesem Ort des Grauens bleibt Hermann Brill politisch aktiv und initiiert ein „Volksfrontkomitee“. Am 15. April 1945 – die SS-Aufseher hatten gerade das Lager verlassen – verfasst Hermann Brill mit Gleichgesinnten, wie Benedikt Kautsky, das „Manifest der demokratischen Sozialisten des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald“, das mit seinem Untertitel „Für Frieden, Freiheit und Sozialismus“ als erste sozialdemokratische Programmschrift für ein neues, demokratisches Deutschland gilt und am 9. Juli 1945 Richtschnur für die Gründung des „Bund demokratischer Sozialisten/SPD“ dient. 

Thüringer SPD hat einen Preis nach Brill benannt

Da er seine Ideen im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands nicht verwirklichen kann, flüchtet Hermann Brill Ende 1945 in den US-Sektor von Berlin und wird Berater der Militärverwaltung. Im Sommer 1946 beruft der hessische Ministerpräsident Karl Geller Hermann Brill als Staatssekretär zum Leiter der Staatskanzlei. In dieser Funktion nimmt Brill entscheidenden Einfluss auf die verfassungsrechtliche Gestaltung eines demokratischen Deutschlands. Als Mitglied des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee gehört Hermann Brill zu den eigentlichen Vätern des Grundgesetzes.

Nach den Erfahrungen, vor allem im NS-Staat, möchte Brill im Grundgesetz eine Staatsauffassung durchsetzen, in der „das Individuum im Gebrauch der Menschenrechte der letztlich entscheidende Faktor in allen Funktionen ist, die Verfassung und Gesetz als Handlungen zulassen.“ Auf die Schlussfassung des Grundgesetzes kann Hermann Brill keinen Einfluss mehr ausüben. Als Linkssozialist passt er nicht mehr in die zunehmend konfrontative politische Landschaft.

1949 erringt Hermann Brill sein letztes politisches Mandat und zieht in den Deutschen Bundestag ein. 1953 endet seine politische Laufbahn. Gekennzeichnet von den physischen und psychischen Folgen der langen Haftzeit, stirbt der leidenschaftliche sozialistische Demokrat Hermann Brill am 22. Mai 1959. Die SPD-Fraktion im Thüringer Landtag ehrt ihren prominenten Vorkämpfer seit einigen Jahren mit der Verleihung der „Hermann-Brill-Preises“ für bürgerschaftliches Engagement und setzt damit ein Zeichen in republikanisch schwierigen Zeiten.

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1 Kommentar

Gespeichert von Robert Holmer (nicht überprüft) am Mi., 26.06.2024 - 05:18

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Danke für die Erinnerung an Hermann Brill!