Geschichte

Anna Haag: Die Mutter der Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz

Die Friedensaktivistin Anna Haag gelobt in ihrem Kriegstagebuch 1940, sich für ein demokratisches Deutschland einzusetzen, sofern sie überleben würde. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Artikel 4, Absatz 3 im Grundgesetz geht auf sie zurück.
von Jennifer Holleis · 16. Dezember 2021
Privates Glück: Anna Haag 1923 mit ihren drei Kindern Isolde, Sigrid und Rudolf
Privates Glück: Anna Haag 1923 mit ihren drei Kindern Isolde, Sigrid und Rudolf

Diese irregeführten deutschen Menschen! … Wie sehr habe ich einst selbst an dieses ,Vaterland‘ geglaubt.“ Diese Zeilen schreibt die Stuttgarterin Anna Haag am 14. November 1940, in das erste von 20 schwarzen Schulbüchern, die sie bis Kriegsende mit ihren Beobachtungen und Gedanken füllt. Sie versteckt ihr fast täglich wachsendes Kriegstagebuch erst im Kohlenkeller ihres freistehenden Einfamilienhauses im Stuttgarter Viertel Sillenbuch, später vergräbt sie es in einer Blechdose auf dem Land.

Der dreifachen Mutter ist durchaus bewusst, dass sie durch ihre Aufzeichnungen mit einem Bein im Gefängnis steht. „Ein Denunziatiönchen, eine anschließende Haussuchung: und schon wäre ich meinen Kopf los!“, schreibt sie am 5. November 1942. Doch was treibt Anna Haag, eine evangelische Hausfrau und überzeugte Demokratin an, ein solch widerständisches Kriegstagebuch zu führen? Einerseits dokumentiert sie den Stuttgarter Alltag für ihre Kinder. Ihr Sohn ist in Kanada interniert, eine Tochter lebt in Birmingham. Die zweite Tochter lebt anfangs noch in der Schweiz, zieht aber wegen Eheproblemen zu den Eltern. Eine Scheidung kommt jedoch nicht in Frage, der Ehemann – ein glühender Nazi – droht, die Mutter zu verraten.

Sie ist vorsichtig, aber bleibt ihren Werten treu

Andererseits wird das Tagebuch zum Sprachrohr für Anna Haags persönliche und politische Gedanken. Am 13. September 1943 notiert sie: „Ich will vorsichtig sein, wo es angeht, aber ich will nicht zum Verräter an meinen Werten und Denken werden.“

In ihrer klaren Position gegen Hitler, und dem minutiösen Darlegen der Gespräche und Reaktionen aus der Nachbarschaft, wird das Tagebuch zum Manifest. So schreibt sie beispielsweise am 6. November 1941: „Wollen wir, müssen wir nicht unsere ganze Kraft einsetzen, um zu verhindern, dass sich das jemals wiederhole? Ich will gewiss, gewiss das Meine tun!“

Seit 1946 für die SPD im Landtag

Unmittelbar nach Kriegsende erstellt Anna Haag zusammen mit ihrem Ehemann Albert aus den 20 Tagebuchheften (mit rund 2000 Seiten) ein 500-seitiges Transkript, das Haag zur Publikation anbietet. Allerdings vergeblich, kein Verleger zeigt Interesse. So verschiebt sie das Projekt auf später, zu Gunsten ihrer politischen Karriere.

1946 wird sie für die SPD Mitglied im ersten Landtag des neu gegründeten Landes Württemberg-Baden. 1947 bringt sie den Initiativgesetzentwurf „Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“, ein. Bis heute ist ihr Entwurf als Artikel 4, Absatz 3, etwas erweitert im Grundgesetz der BRD: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“. 

Die Tatsache, dass Deutschland einen konstitutionellen Pazifismus verankert hat, ist Anna Haag zu verdanken, genauso wie die Tatsache, dass Millionen Männer seitdem die Möglichkeit hatten, anstelle vom Wehrdienst Zivildienst zu leisten.

Fast 40 Jahre nach ihrem Tod erscheint ihr Kriegstagebuch

Die Powerfrau engagiert sich auch gesellschaftlich. Sie gründet in Stuttgart das „Anna-Haag-Haus“, und reist vielfach nach Amerika, um die amerikanisch-deutschen Verbindungen unter Frauen aufzubauen. 1958 erhält sie das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Viele weitere Auszeichnungen folgen, bis sie 1982 in Stuttgart stirbt.

Fast 40 Jahre nach ihrem Tod ist ihr vorbereitetes Typoskript letzten Endes doch noch erschienen. Unter dem Titel „Denken ist heutzutage überhaupt nicht mehr in Mode“ – das Kriegstagebuch von Anna Haag, hat der Reclam Verlag das Typoskript im März 2021 veröffentlicht. Die Herausgeberin des Tagebuchs ist die Autorin dieses Artikels. 

Autor*in
Jennifer Holleis

ist Journalistin, Übersetzerin und Dolmetscherin. Sie beschäftigt sich seit 2012 mit Anna Haags Tagebüchern.

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